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Eine geöffnete Terrassentür zu einem Garten. Der Wind verweht weiße Vorhänge. Eine junge Frau, die im Gegenlicht nur schemenhaft zu erkennen ist, steht an der Tür und schaut hinaus.
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Élodies Fluch

Episode:
2
Version:
V2.1
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Länge:
10.600 Wörter
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50 Minuten
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V2.1 – 5. September 2025
Kleine Änderungen nach Leserfeedback
V2.0 – 30. August 2025
Neufassung, stilistisch vollständig überarbeitet und erweitert
V1.4 – 10. Juni 2025
Grammatikfehler korrigiert
V1.3 – 22. Januar 2025
Rechtschreibkorrekturen
V1.2 – 20. September 2024
Rechtschreibkorrekturen
V1.1 – 6. Juli 2024
Rechtschreibfehler behoben
V1.0 – 3. Juli 2024

Élodies Fluch

Der Tag war lang, Kopf und Bauch waren gut gefüllt. Mein Chef hatte mich und zwei Kollegen zu einer Schulung geschickt. Nun fuhren wir auf der Autobahn zurück nach Hause. Satt und zufrieden saß ich auf der Rückbank des Firmenwagens, lauschte dem gleichmäßigen Rauschen des Fahrtwindes und beobachtete durch das Fenster, wie die Landschaft langsam im Dämmerlicht versank.

Ich musste an meinen seltsamen Traum denken. Der Orient-Express. Der blaue Edelstein. Die mysteriöse Frau namens Miray. Das alles lag jetzt schon drei Wochen zurück.

Seitdem hatte ich bloß meine üblichen Träume: Ich kam zu spät zur Arbeit, ich war hungrig und alle Lebensmittel waren verdorben, so etwas halt. Einen Traum jener Art hatte ich nicht mehr.

Vor einer Woche versuchte ich, die Situation von damals nachzustellen. Wie an jenem Tag verzehrte ich zuerst einen riesigen Döner von meinem Lieblingsimbiss, nahm danach ein heißes Bad und lümmelte mich anschließend auf dem Sofa vor dem Fernseher, bis mir die Augen zufielen. In der Nacht träumte ich, dass ich meine Wohnung mit einer sprechenden Ziege teilte. Danach gab ich den Versuch auf und akzeptierte, dass jener Traum eine einmalige Ausnahme bleiben sollte.

Wir überholten einen Schwertransporter, sein gelbes Warnlicht blitzte durch die Seitenscheibe und blendete mich. Ich schloss die Augen und versuchte, mich an Mirays Gesicht zu erinnern. An ihren kurzen, zerzausten Pixie-Schnitt mit den blauen Strähnchen. Ihr freches Lächeln. Die eisblauen Augen – oder waren sie silbergrau? Das Bild von ihr verblasste langsam.

Das Auto machte plötzlich einen starken Schlenker und mein Kopf stieß gegen etwas Hartes.

„Au! Verdammt!“, rief eine Stimme neben mir, die mir vertraut vorkam.

„Miray?“, knurrte ich, während ich mir die schmerzende Schläfe hielt. Ich öffnete die Augen. Es war taghell und ich befand mich auf dem Rücksitz einer alten Limousine. Neben mir saß Miray mit zugekniffenen Augen und rieb sich den Kopf.

„Dian?“, fragte sie benommen. „So trifft man sich wieder! Wo sind wir?“

Ich sah nach draußen. Die Sonne stand hoch in einem blauen Himmel, doch in der Ferne türmten sich bereits Wolken zu einem Amboss auf und kündigten ein Unwetter an. Wir fuhren eine Landstraße entlang, welche zwischen einem dichten Wald und einem Weizenfeld verlief. Es hätte überall sein können. Nichts ergab einen Hinweis auf unseren Ort.

Oder sagen wir: fast nichts.

„Ich glaube, wir sind im Frankreich der späten 1930er“, verriet ich und grinste stolz.

Miray sah mich verblüfft an. Endlich machte sich meine Leidenschaft fürs Autoquartett bezahlt, die ich als Kind hegte.

„Wir sitzen in einem wunderschönen Citroën Traction Avant. Ein echter Klassiker, der ab 1934 in Frankreich produziert wurde, wenn ich mich nicht irre.“ Ich strich mit der Hand über die Sitzbank. „Riechst du das Leder? Dieser Wagen kann noch nicht alt sein!“

Wir sahen nach vorne. Auf der Fahrerseite saß ein Mann um die dreißig Jahre. Unter seiner Chauffeursmütze trug er schwarzes Haar, das kurz geschnitten war. Konzentriert beobachtete er die Straße, während er das Fahrzeug lenkte.

Miray tippte ihm vorsichtig auf die Schulter. „Verzeihung, wohin fahren wir?“

„Zu Madame und Monsieur Vignaud, Mademoiselle“, gab er emotionslos Auskunft.

„Und das sind?“

Er warf uns im Rückspiegel einen kurzen Blick zu.

„Ihre Tante und Ihr Onkel, Mademoiselle.“

Miray sah mich überrascht an. „Wie es aussieht, habe ich hier Verwandtschaft.“

Nach einer halben Stunde erreichten wir eine lange, verfallene Mauer. Dann passierten wir ein solides Eisentor und fuhren einen schmalen Waldweg entlang. An dessen Ende konnte ich bereits ein Herrenhaus erkennen. Mit seiner verzierten Fassade und einem Turm an der Seite hätte es auch ein Schloss sein können.

Je näher wir kamen, desto mehr Details wurden sichtbar. Vor dem Haus war ein großer halbrunder Platz aus weißem Schotter angelegt. In dessen Mitte befand sich ein Springbrunnen, der schon länger nicht mehr in Betrieb war, wie das wuchernde Moos verriet.

Ein Gerüst verhüllte einen Teil des Gebäudes, dem Rest der Fassade stand die Renovierung vermutlich noch bevor. Ich sah zum Dach hoch und bemerkte eine riesige Uhr, die über dem Haupteingang in einer Dachgaube eingelassen war. Sie war kaum zu übersehen. Ich hätte sie eher an einer Kirche oder Schule erwartet, hier sah sie fehl am Platz aus. Außerdem fehlten ihr die Zeiger. Lediglich zwölf Striche für die Stunden und eine Achse in der Mitte verrieten, dass sie einst die Zeit anzeigte.

Vor dem Haupteingang erwarteten uns bereits unsere Gastgeber, ein Mann und eine Frau, beide waren um die vierzig und hatten sich für ihre Besucher in Schale geworfen. Sie winkten uns zu, als der Wagen um den Brunnen fuhr. Neben ihnen standen zwei Teenager-Jungen, offensichtlich Zwillinge, nett herausgeputzt in ihrer besten Sonntagskleidung. Hinter ihnen auf der Haupttreppe warteten drei Dienstmädchen in Uniform, daneben ein Butler in schwarzem Anzug.

Kaum waren wir ausgestiegen, lief die Dame des Hauses uns schon mit offenen Armen entgegen.

„Miray, meine Lieblingsnichte!“, rief sie, umarmte sie kräftig und gab ihr einen Schmatzer auf beide Wangen. Der Hausherr folgte, er begrüßte seine Nichte eher steif und formell.

„Hallo, Tantchen! Hallo, Onkelchen!“, krächzte Miray verunsichert. Für sie waren die Personen in dieser Traumwelt genauso fremd wie für mich. Ich bewunderte, wie sie diese Tatsache zu überspielen versuchte.

„Was für eine freudige Nachricht wir von dir erhielten!“, rief die Tante begeistert.

Miray warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte vorsichtshalber mit den Schultern.

Die Tante sah mich von oben bis unten an, dann wandte sie sich wieder ihrer Nichte zu. „Nett sieht er ja aus! Magst du uns deinen Verlobten nicht vorstellen?“

Die Überraschung stand Miray ins Gesicht geschrieben. Sie starrte mich mit offenem Mund an. Ich grinste zurück. Es gab weitaus härtere Schicksale, jedenfalls aus meiner Sicht.

Schließlich zwang sie sich zu einem Lächeln und reichte mir ihre Hand. „Selbstverständlich“, rief sie und zog mich zu sich. „Wo habe ich bloß meine Manieren gelassen? Das ist Dian, mein Verlobter!“

Sie sah mich an und fuhr fort: „Dian, das sind meine Tante, Madame Vignaud, und mein Onkel, Monsieur Vignaud.“

Parbleu, bitte nicht so formell!“, protestierte die Tante. „Du darfst uns gerne Zoé und Henri nennen!“

Sie umklammerte mich und gab mir einen Kuss auf beide Wangen, während ihr schweres Parfum mich fast betäubte.

„Schließlich gehörst du bald zur Familie, mon cher.“

Zoé winkte ihre Söhne herbei und stellte sie mir vor. Sie hörten auf die Namen Éric und Frédéric. Lustlos schüttelten sie uns die Hände. Es war offensichtlich, dass sie lieber im Garten herumgetollt und Abenteuer erlebt hätten, als in ihren besten Sachen brav herumzustehen und ihre Cousine nebst Anhang zu begrüßen.

Als Nächstes kam das Personal an die Reihe. Der Butler, der stets dezent in Rufweite stand, hieß Jérôme. Er war ein älterer, aber immer noch rüstiger Herr. Als Zoé ihn vorstellte, nickte er und begrüßte uns.

Die drei Dienstmädchen hießen Agnès, Denise und Paule. Sie standen hinter dem Citroën und mühten sich damit ab, unser Gepäck aus dem Kofferraum zu heben. Laurent, den Chauffeur, hatten wir bereits kennengelernt. Er lehnte lässig an der Fahrertür, kaute auf einem Zahnstocher und beobachtete die Mädchen bei ihrer Arbeit. Kaum war der letzte Koffer ausgeladen, warf er den zerkauten Spieß weg wie eine Kippe, klappte den Kofferraum zu und fuhr davon.

Unsere Gastgeberin nahm uns an die Hand, ihr Griff war fest wie ein Schraubstock.

„Meine Nichte ist verlobt, wie romantisch!“, gurrte sie. „Ihr müsst mir beim Dîner unbedingt erzählen, wie ihr euch kennengelernt habt!“

Miray wischte sich über die Nasenspitze. „Ach… Das ist wirklich nichts Besonderes“, murmelte sie verlegen. „Wir würden dich damit nur furchtbar langweilen.“

Mais non!“ Zoé lachte hell auf. „Ich liebe solche Geschichten.“

Sie brachte uns ins Haus und überließ uns dort dem Butler.

Jérôme führte uns die breite Haupttreppe hinauf und an einer Empore vorbei in einen langen Korridor. Die Wände waren weiß gekalkt, glatt und ohne jeden Schmuck. Es gab keine Bilder, keine Wandteppiche, keine Tischchen mit Blumenvasen darauf. Auf beiden Seiten reihten sich Türen aneinander, in gleichem Abstand, praktisch, zweckmäßig und langweilig. Alles war sauber und gepflegt, aber fühlte sich so steril an wie der Flur eines Businesshotels.

Zuerst gingen wir in Mirays Zimmer. Es entsprach allen Klischees, die man an ein Schlafzimmer in einem Herrenhaus stellen konnte. Die purpurrote Tapete und das dunkle Eichenparkett erschlugen mich regelrecht. Ein Himmelbett war vorbereitet, sein weißer Vorhang war dekorativ an die Säulen gebunden. Zwischen den zwei Fenstern stand ein Sekretär, an der Seitenwand ein schwerer Eichenschrank. Der Raum wirkte einerseits komfortabel und gastfreundlich, andererseits irgendwie unecht und fast wie eine Kulisse.

Agnès trug Mirays Koffer ins Zimmer und legte ihn auf einer Truhe ab. Währenddessen deutete Jérôme auf eine Tür neben dem Schrank, die zum benachbarten Zimmer führte.

„Madame hat mir aufgetragen, diese Tür abzuschließen, da Monsieur und Mademoiselle noch nicht verheiratet sind“, erklärte er und schnalzte leise mit der Zunge. „Ich befürchte, ich werde langsam vergesslich.“

Dann führte er mich ins Nachbarzimmer. Es war nahezu identisch eingerichtet, außer dass sich alles auf der gegenüberliegenden Seite befand. Paule erwartete mich mit meinem Koffer. Als sie mich sah, knickste sie kurz und blickte mich schüchtern an.

„Agnès und Paule werden Ihnen jederzeit zur Verfügung stehen“, sagte Jérôme. Dann entschuldigte er sich und ließ uns zurück, um sich um das Dîner zu kümmern.

„Wünschen Sie, dass ich Ihnen beim Auspacken helfe, Monsieur?“, fragte Paule.

Ich bedankte mich, lehnte aber ab. Es war mir lieber, alleine herauszufinden, was in meinem Koffer war. Paule machte einen weiteren Knicks, verließ das Zimmer und zog die Tür leise hinter sich ins Schloss.

Jemand klopfte an die andere Tür.

„Dian?“, hörte ich Mirays Stimme.

Ich bat sie herein.

„Ist dein Mädchen weg?“, fragte sie und sah sich in meinem Zimmer um.

„Ja. Ich wollte meine Sachen lieber ohne sie auspacken.“

Sie nickte. „Ich habe Agnès auch weggeschickt. In meinem Koffer war aber nichts Ungewöhnliches, nur Kleider und was man auf einer Reise sonst benötigt. Ich hoffe, wir finden bei dir einen Hinweis, weshalb wir hier sind.“

Ich öffnete mein Gepäckstück, aber auch dort fanden wir nichts weiter als einen eleganten Anzug, Sachen für die Nacht, einen Morgenmantel, zeitgemäße Freizeitkleidung und Toilettenartikel.

Enttäuscht sah ich Miray an. „Welche Aufgabe müssen wir wohl diesmal lösen?“

„Wir werden es früh genug erfahren“, sagte sie schulterzuckend. „Das Dîner macht mir gerade mehr Sorgen. Tante Zoé wird uns wegen unserer Verlobung ausfragen. Was sollen wir ihr bloß erzählen? Wohl kaum, dass wir uns im Orient Express kennenlernten – vor dreißig Jahren!“

Ich strich ihr über die Schulter. „Wenn es soweit ist, wird uns sicher spontan eine Geschichte einfallen.“

Miray wollte gerade etwas erwidern, als es an die Zimmertür klopfte. Noch bevor wir antworten konnten, wurde sie aufgerissen und die Zwillinge stürmten herein.

Maman sagt, wir sollen deinem Verlobten das Haus zeigen“, rief Éric aufgeregt.

„Vielleicht könnt ihr uns sogar helfen, den Fall zu lösen“, ergänzte Frédéric.

Mirays Augen blitzten auf. „Welchen Fall?“, fragte sie, als hätte sie auf dieses Stichwort gewartet.

„Einen Diebstahl!“, sagte Éric. „Auf der Baustelle sind vier Säcke Zement verschwunden.“

„Zement“, wiederholte sie trocken. „Wir sind hier, um Zementsäcke wiederzufinden.“

Ich musste lachen. „Na, dann zeigt uns mal den Tatort.“

Die Zwillinge führten uns zur Rückseite des Hauses. Das Gebäude sah dort noch verfallener aus als auf der Vorderseite. An vielen Stellen war der Putz abgebröckelt und gab den Blick auf das nackte Mauerwerk aus Backstein frei. Ein Teil der Wand war eingerüstet. Steine, Zementsäcke und anderes Material lagen in der Nähe.

Das Haus grenzte an einen Park, der auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Büsche wuchsen wild, Unkraut überwucherte die Blumenbeete. Es folgte ein Wald, der früher zum Spazieren einlud. Ein Dickicht aus Efeu, Sträuchern und totem Gehölz machte dies nun unmöglich.

Zwischen dem Wald und dem Haus lag ein See. Das Wasser war trüb und vermoost, ein paar Enten ließen sich lustlos treiben. Sie beobachteten uns argwöhnisch und quakten sich etwas zu.

Hinter einem Seitentrakt des Gebäudes fiel mir ein Schuppen ins Auge. Sein Sockel war aus groben Feldsteinen gebaut, darauf ruhte ein Rahmen und ein Dach aus Holz. An seiner Vorderseite war ein großes Tor, dessen Flügel mit roten und weißen Streifen angemalt waren.

Éric bemerkte meinen Blick. „Das war früher ein Stall für Pferde“, erklärte er. „Jetzt steht da unser Automobil.“

„Und Laurent hat dort eine kleine Werkstatt“, ergänzte Frédéric. „Er ist sehr geschickt.“

Miray beachtete den Schuppen nicht weiter. Der Diebstahl ließ ihr keine Ruhe, war er doch unsere mögliche Fahrkarte nach Hause.

„Wer könnte Interesse daran haben, Zement zu stehlen?“, fragte sie die Zwillinge.

„Keine Ahnung“, murmelte Frédéric. „Vielleicht das tote Mädchen?“

Sein Bruder gab ihm einen Knuff auf die Schulter. „Maman sagt, wir sollen nicht über sie reden, wenn wir Gäste haben“, schimpfte er.

Das Abenteuer begann nun doch, interessant zu werden. „Was für ein totes Mädchen?“, hakte ich nach.

Die Zwillinge drucksten herum, bis Frédéric mit der Sprache herausrückte. „Sie ertrank vor vielen Jahren in dem See“, sagte er und deutete zu den Enten.

„Und jetzt kehrt sie als Geist zurück und stiehlt Zement?“, fragte Miray. „Warum sollte sie das tun?“

Frédéric sah verlegen zu Boden. „Weil wir ihren Löwen weggenommen haben.“

„Ihren Löwen.“ Miray verzog den Mund.

Éric nickte. „Vor ein paar Wochen fanden wir am Ufer einen kleinen Löwen aus Eisen, total dreckig und verrostet. Wir haben ihn mitgenommen.“

„Und wo ist er jetzt?“

„Wir gaben ihn Laurent. Er versprach, ihn wieder schönzumachen.“

Miray sah mich ratlos an. Ich zuckte mit den Schultern. Gestohlene Zementsäcke, ein rostiger Löwe, ein totes Mädchen. Viele lose Enden, die einfach nicht zusammenpassen wollten.

Jérôme kam auf uns zu. „Das Dîner beginnt in zwei Stunden. Die Herrschaften möchten sich sicherlich vorher frisch machen.“

Ich nickte begeistert. Das traf sich gut, denn ich hatte einen gewaltigen Hunger.

Wir kehrten ins Haus zurück und gingen auf unsere Zimmer, um uns für den Abend vorzubereiten. Ich nahm den eleganten, schwarzen Anzug aus meinem Koffer. Er passte wie maßgeschneidert, vermutlich war er das sogar.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, klopfte ich an Mirays Tür.

„Ich bin gleich fertig!“, rief sie.

Wenige Augenblicke später öffnete sie und stand vor mir. Sie trug ein elegantes, nachtblaues Abendkleid, das prächtig funkelte. Die Ärmel reichten bis zu den Handgelenken, und ein tiefer Ausschnitt ließ Platz für eine kleine Diamantkette. Ihre kurzen Haare hatte sie festlich zurechtgemacht und ihr Gesicht dezent geschminkt. Sie sah wunderschön aus, und ich bedauerte in dem Moment, dass wir nicht wirklich verlobt waren.

„Begleitest du mich zum Essen, mon cœur?“, fragte sie mich mit einem charmanten Lächeln und hielt mir ihre Hand hin.

Ich nickte, bot ihr meinen Arm an und sie hakte sich ein. Gemeinsam gingen wir die große Treppe hinab und betraten das Esszimmer. Der Raum war groß und ungewöhnlich langgezogen.

Der Esstisch war massiv und eindrucksvoll, aber stand fast verloren in der Mitte, mit Platz genug für zwei weitere Tische. Für ein herrschaftliches Esszimmer wirkte das sonderbar. Es sah mehr aus wie eine Halle, die man für möglichst viele Personen herrichten wollte.

Die Vignauds saßen bereits am Tisch und unterhielten sich. Zoé fummelte an den Kragen ihrer Söhne, während Henri letzte Anweisungen ans Personal gab.

Als sie uns bemerkten, verstummten sie. Alle Augen waren auf uns gerichtet.

Zoé brach die Stille. „Ihr seid wahrhaftig ein wundervolles Paar!“, rief sie und applaudierte. Verlegen bedankten wir uns und nahmen ihnen gegenüber an der Tafel Platz.

Die drei Dienstmädchen servierten den ersten Gang, eine köstlich duftende Zwiebelsuppe, in deren Mitte eine großzügig mit Käse überbackene Scheibe Brot schwamm. Während ich mich hungrig darüber hermachte, füllte Jérôme unsere Gläser.

Das Tischgespräch begann mit Smalltalk über das Wetter und unsere Anreise. Doch mir war klar, dass Zoé eigentlich etwas anderes auf dem Herzen hatte und bald die unvermeidliche Frage stellen würde. Ich versuchte, ihr bei der Wahl des Gesprächsthemas zuvorzukommen.

„Zoé, verzeih bitte meine Neugier“, begann ich, „aber dieses Herrenhaus, es ist in mancher Hinsicht recht… ungewöhnlich.“

Sie stutzte. „Ungewöhnlich?“

„Nun, da ist zum Beispiel diese riesige Uhr auf dem Dach. Oder der Korridor mit den vielen Schlafzimmern. Und das Esszimmer? Hier wäre Platz genug für eine ganze Kompanie!“

„Sehr aufmerksam, Dian“, lobte Zoé mich und schmunzelte. „Du hast recht! Das Gebäude war ursprünglich kein Herrenhaus, sondern ein Mädcheninternat für die gehobene Schicht.“

„Warum wurde es geschlossen?“, fragte Miray. „Hat es mit dem ertrunkenen Mädchen zu tun?“

Zoé warf ihren Söhnen einen grimmigen Blick entgegen. „Da konnten zwei Plappermäuler wohl ihre Münder nicht halten.“

Dann atmete sie tief durch. „Ja. Das Mädchen hatte sich eines Nachts aus ihrem Zimmer geschlichen. Am nächsten Morgen fand man sie im See. Die Polizei sprach von einem tragischen Unfall.“

Henri stellte sein Weinglas ab, bevor er fortfuhr: „Für das Internat war es ein Skandal. Die Eltern kamen und brachten ihre Töchter weg. Der Ruf war ruiniert. Irgendwann ging das Geld aus und sie mussten schließen. Das Haus stand leer, viele Jahre lang, und begann zu verfallen.“

„Vor vier Jahren hat Henri es gekauft“, knüpfte Zoé an. Stolz schwang in ihrer Stimme. „Wir tauften es Manoir de Vignaud und begannen mit dem Umbau. Vieles war kaputt, die Fenster zersprungen, das Dach undicht. Einen Teil der Räume haben wir schon umgestaltet, um eines Manoirs würdig zu sein. Momentan lassen wir die Fassade und den Rest der oberen Etage herrichten. Aber es bleibt noch viel zu tun, wie ihr sicher bemerkt habt.“

Sie seufzte.

„Es heißt“, sagte Frédéric aufgeregt, „der Geist des toten Mädchens spukt hier immer noch.“

Zoé schlug mit der Faust auf den Tisch. „Genug jetzt, Frédéric! Du machst deiner Cousine Angst mit deinen Schauergeschichten.“

Der erste Gang war beendet. Agnès und Denise räumten unser schmutziges Geschirr ab, während Paule einen Servierwagen hereinrollte.

„Eine Spezialität unserer Köchin“, rief Zoé erfreut, „hausgemachte Boudin Noir!“

Paule servierte mir einen Teller, auf dem mehrere dicke Scheiben dunkel gebratener Wurst, eine Portion Kartoffelpüree mit Röstzwiebeln und karamellisierte Apfelscheiben als Beilage angerichtet waren. Ich hatte so etwas noch nie gegessen, aber es schmeckte genauso appetitlich, wie es aussah. Als Denise mir einen Nachschlag anreichte, hielt ich nur zu gerne meinen Teller hin.

Zoé nutzte den Moment unserer Unaufmerksamkeit. „Miray, Dian, ihr müsst uns endlich erzählen, wie ihr euch kennengelernt habt! Und wann die Hochzeit stattfindet! Wir sind doch sicher eingeladen? Also, wo habt ihr euch getroffen?“

Miray drehte nervös ihr Wasserglas hin und her, dann schaute sie verlegen in die Runde. Der Moment, vor dem sie sich so fürchtete, war gekommen. Ich wollte ihr helfen.

„In London“, begann ich.

„Beim Pokern“, platzte sie im selben Moment heraus.

Unsere Augen trafen sich. Mit einem kaum merklichen Nicken ließ ich sie wissen, dass ich das Steuer übernehme. Sie nickte dankbar zurück.

„Wir trafen uns in London“, erzählte ich gelassen, „und zwar bei einem Pokerturnier. Runde für Runde hatten wir uns voran gespielt, jeder ein harter Gegner für sich. Bis das Schicksal uns schließlich an einen Tisch brachte. Wir lieferten uns ein hartes Duell. Doch dann…“

„Dann?“, fragte Zoé gespannt. Sie hing an unseren Lippen.

„Dann…“, setzte Miray fort und schob eine dramatische Pause ein, „dann wurde ich zu gierig. Ich ging all-in mit nichts auf der Hand, und Dian wollte sehen.“

Sie fing meinen Blick ein, als hätten wir das wirklich erlebt.

„Ich verlor alles. Aber was bedeutet schon Geld, wenn ich an jenem Abend sein Herz gewinnen konnte?“

Sie schmunzelte frech. Um ein Haar hätte ich laut losgelacht und damit das Märchen auffliegen lassen, das wir unseren Gastgebern so schamlos aufgetischt hatten.

Wir sahen Zoé an. Sie machte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, der einerseits Rührung verriet, uns andererseits keinen rechten Glauben schenken wollte. Doch schließlich lächelte sie zufrieden.

„Das sind die Geschichten, wie sie nur das Leben schreibt, nicht wahr, Henri?“, schwärmte sie, während sie ihren Mann ansah. Als er gerade antworten wollte, schallte ein spitzer Schrei durchs Haus.

Wir sahen uns erschrocken an.

„Das war Paule!“, rief Denise, ließ die schmutzigen Teller auf den Servierwagen fallen und rannte hinaus. Wir sprangen von unseren Plätzen auf und eilten hinterher.

Paule saß an einem Fenster des Salons, völlig in sich zusammengesunken und blass wie eine Leiche. Denise kniete daneben und fächerte ihr mit einem Taschentuch Luft zu.

Jérôme ging zu den beiden Mädchen. „Was soll das Theater?“, fragte er schroff.

Paule zeigte mit zitternder Hand nach draußen. „Der Geist!“, krächzte sie. „Am See! Der Geist des toten Mädchens!“

Wir liefen zu den Fenstern und starrten hinaus. Im Mondschein konnten wir deutlich eine Gestalt am Wasser erkennen. Sie trug ein zerfetztes weißes Kleid und schritt langsam am Ufer entlang. Als sie die Bäume erreichte, verdunkelte eine Wolke die Szene. Einen Moment später war die Erscheinung verschwunden.

Henri war kreidebleich. „Das kann nicht sein!“, stammelte er, seine Hand lag auf der Fensterscheibe. Auch Zoé sah fassungslos in den Garten.

Die Zwillinge dagegen strahlten vor Freude. „Habe ich es dir nicht gesagt, Cousine?“, triumphierte Frédéric und zupfte an Mirays Kleid. Éric ließ den See nicht aus den Augen, um eine Zugabe des Gespenstes bloß nicht zu verpassen.

Jérôme war nun draußen, lief zum See und sah sich um. Nach einer Weile blickte er zum Haus und warf resigniert die Hände in die Luft, bevor er mit hängenden Schultern zurückkehrte.

Den Rest des Abends verbrachten wir schweigend. Paule stand apathisch in einer Ecke des Esszimmers, bis Jérôme den Anblick nicht mehr ertragen konnte und sie in die Küche schickte. Er und die beiden anderen Mädchen servierten still den letzten Gang, eine Crème Brûlée mit Berberitzen. Die Anspannung knisterte im Raum. Als mir der Löffel aus der Hand fiel, zuckten alle zusammen und sahen mich vorwurfsvoll an.

Nachdem auch der Nachtisch verspeist war, entschlossen wir uns, den Abend zu beenden und uns auf die Zimmer zurückzuziehen. Die Feierlaune war uns vergangen.

Ich lag in meinem Bett und konnte nicht schlafen. Draußen hatten sich dichte Wolken vor den Mond geschoben und das Zimmer in Dunkelheit getaucht. Das Haus war fremd und alt, sein Gemäuer knackte und krachte, während es vom heißen Tag abkühlte. Ich nahm es gar nicht wirklich wahr. Meine Gedanken kreisten um die Frage, was unsere Aufgabe sein mochte.

Zweifellos war der Spuk am See ein Teil davon. Aber war es wirklich der Geist des ertrunkenen Mädchens, den wir dort gesehen hatten? Ein echtes Gespenst? Oder gab es eine vernünftige Erklärung?

Irgendwann döste ich ein, bis ein auffrischender Wind durch die Fensterritzen pfiff und an den Scheiben rappelte. Ein tiefes Grollen in der Ferne kündigte das Gewitter an, das bereits den ganzen Tag am Horizont gelauert hatte. Es zog rasch näher, das Wetterleuchten wurde intensiver, das Grummeln lauter. Regen setzte ein, peitschte gegen das dünne Glas.

In der Nähe schlug ein Blitz ein. Für einen Augenblick flammte das Zimmer auf. Äste eines Baumes warfen den Schatten eines Monsters an die Wand. Sofort danach ein krachender Donner. Er ließ die Fenster scheppern, sein Echo hallte im Haus nach wie ein Kanonenschlag.

„Reiß dich zusammen“, schimpfte ich leise und atmete tief durch. „Du benimmst dich wie ein kleines Kind, das Angst vor Gewitter hat.“

Ich wälzte mich auf die andere Seite und versuchte, endlich Schlaf zu finden.

Die große Standuhr unten im Salon schlug ein Uhr. Sekunden später: Ein dumpfer Schlag, so heftig, dass die Wände zitterten.

Er kam aus dem Haus!

Ich riss die Augen auf. Mein Herz hämmerte in der Brust. Zwei weitere Schläge folgten. Ein langsamer, grober Takt, die Schritte eines Giganten.

Ich tastete nach dem Schalter. Das Nachtlicht ging an. Ich sprang aus dem Bett, wollte fliehen. Meine Knie knickten weg, weich wie Gummi. Ich krallte mich an den Tisch, zwang mich auf die Beine, rannte auf den Korridor.

Zoé stand schon dort, im Nachtrock, sah mich mit entsetzten Augen an. Hinter ihr Henri, sich einen Mantel überziehend.

Eine weitere Tür ging auf und Miray sah in die Runde. „Was soll das sein, das Trampolin-Finale der Sumoringer?“

Der nächste dumpfe Schlag, er ließ das Gemäuer knacken.

Éric und Frédéric kamen aus ihrem Zimmer gelaufen, rannten zu ihrer Mutter. Sie sah sie grimmig an.

„Steckt ihr dahinter?“

Die Jungen schüttelten den Kopf. Dann klammerten sie sich an sie wie an einen Rettungsring.

Wieder ein Schlag. Das Licht flackerte kurz.

Schritte liefen auf uns zu. Die drei Dienstmädchen bogen in den Korridor, dann Jérôme, nach Luft hechelnd, zuletzt Laurent hinter ihm. Sie hatten ihre Zimmer in Panik verlassen, trugen noch ihre Schlafkleidung. Blass sahen sie uns an.

„Was ist das?“, fragte Zoé.

„Ich weiß es nicht, Madame.“ Jérôme stemmte die Hände in die Hüfte und atmete schwer.

„Das Geräusch scheint von überall zu kommen“, ergänzte Laurent. „Man hört es im ganzen Haus.“

„Das ist sicher das Gespenst!“, rief Frédéric, seine Augen funkelten. Paule kreischte und warf die Hände vors Gesicht. Sofort nahm Denise sie tröstend in die Arme und sah den Jungen grimmig an.

Miray ging zur großen Treppe. Jérôme, Laurent und ich folgten ihr. Kaum erreichten wir die Empore, ließ eine weitere Erschütterung das Haus beben.

„Hier scheint es lauter zu werden“, stellte sie fest.

Laurent beugte sich über das Geländer. „Ich glaube, es kommt aus dem Keller!“

Miray wippte mit dem Kopf. „Wir sollten uns aufteilen. Jérôme und Laurent, Sie gehen nach unten! Wir werden uns auf dieser Etage umsehen.“

Jérôme nickte und ging die Treppe hinab. Laurent zögerte kurz, dann ließ er die Schultern sacken und folgte ihm.

Wir gingen ans andere Ende der Empore und erreichten eine Tür, die provisorisch aus groben Latten gezimmert war. Dahinter lag der Teil des Gebäudes, der gerade renoviert wurde.

Miray fand einen Lichtschalter. Ein paar trübe Lampen, die an Kabeln von der Decke baumelten, glimmten auf und beleuchteten die Baustelle. Der alte Putz war von den Wänden geschlagen, Türen aus den Angeln gehoben, die Decke aufgerissen. Schutt bedeckte die schmucklosen Dielenbretter.

Wieder eine Erschütterung. Putz rieselte von oben wie ein kurzer Regenschauer. Ich bekam Gänsehaut.

Wir drangen immer weiter in die Baustelle vor, bis wir das Ende erreichten. Dort blieben wir stehen, warteten auf einen weiteren Schlag.

Doch es kam keiner mehr.

Das Wetterleuchten, das durch die staubigen Fenster flackerte, und ein fernes Donnergrollen verrieten, dass auch das Gewitter sich verzog.

„Das war’s dann wohl“, brummte ich.

Miray nickte. „Gehen wir zu den anderen.“

An der Empore trafen wir Jérôme und Laurent, die gerade heraufkamen. Sie warfen uns einen Blick zu und zuckten mit den Schultern.

Gemeinsam kehrten wir zu den Vignauds zurück. Die Erleichterung stand ihnen ins Gesicht geschrieben, als sie uns sahen.

„Unten konnten wir nichts finden“, meldete Laurent.

„Wir fanden auch nichts“, ergänzte Miray. „Das Geräusch hat einfach aufgehört.“

Zoé nickte. Es war ihr anzusehen, dass sie gerne eine bessere Erklärung hören wollte, so wie wir alle.

„Ich weiß zwar noch nicht, wie“, sagte sie schließlich und seufzte leise, „aber wir sollten schlafen gehen. Morgen erfahren wir vielleicht mehr.“

Als ich wieder in meinem Bett lag, knipste ich das Nachtlicht aus und starrte in die Dunkelheit. Zoé hatte recht: Nach diesem unheimlichen Erlebnis würde ich vermutlich nie wieder ein Auge zubekommen.

Ich warf meinen Kopf zur Seite und entdeckte einen schmalen Lichtstreifen unter der Zwischentür. Offensichtlich war ich nicht der einzige, dem die Nachtruhe abhandengekommen war.

Leise ging ich zur Tür, klopfte und wartete, bis Mirays Stimme mich hereinbat.

Sie saß aufrecht im Bett, die Decke über die Beine gezogen. Ihr Morgenmantel lag sorgfältig zusammengefaltet auf dem Sekretärstuhl, sie trug nun ein ärmelloses, weißes Schlafkleid. Zum ersten Mal sah ich ihre Arme, und ich konnte nicht anders, als ihre kräftige Muskulatur zu bemerken. Auf dem linken Oberarm trug sie eine kleine Narbe, die von einer alten Verletzung stammen musste.

„Ein Schlossgespenst, das anklopft?“, spottete sie. „Wie rücksichtsvoll!“

Ich warf einen Blick zurück zur Tür. Warum wollte ich eigentlich zu ihr?

„Ich kann nicht schlafen“, quengelte ich. „Was meinst du, was das war?“

„Keine Ahnung!“ Sie warf die Arme hoch. „Aber es wird eine rationale Erklärung geben. Oder glaubst du an Geister?“

„Eigentlich nicht. Aber was ist schon rational an diesen Traumwelten?“

Miray gähnte und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Wie es aussieht, ist die Geisterstunde vorbei, Dian. Lass uns morgen weitermachen. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf, und du kannst noch ein wenig durchs ehrwürdige Canterville-Anwesen geistern und deine Spukkünste verbessern.“

Verlegen starrte ich auf ihre Bettdecke. Am liebsten hätte ich mich einfach neben sie gelegt. Nicht, weil ich Angst hatte. Ich war nur nicht scharf darauf, alleine in meinem dunklen Zimmer zu schlafen. Doch mir war klar, dass ich das unmöglich tun konnte.

Also murmelte ich ein „Gute Nacht“, schlurfte zurück in mein Zimmer und schloss leise die Tür hinter mir.

Ich lag noch eine Weile wach in meinem Bett, starrte weiter auf den schmalen Lichtspalt unter der Tür, bis er erlosch. Irgendwann schlief ich dann doch noch ein.

Ein Sonnenstrahl weckte mich. Er schien direkt auf mein Bett und ließ die Ereignisse der vergangenen Nacht wie die Erinnerung an einen schlechten Traum erscheinen. Ich stand auf, reckte mich und ging ans Fenster.

Draußen entdeckte ich Miray. Sie hatte sich in improvisierte Sportkleidung geworfen und joggte im Garten, wich dabei geschickt den großen Pfützen aus, die der Gewitterregen überall hinterlassen hatte.

Mein Magen knurrte. Zeit fürs Frühstück! Ich machte mich frisch und eilte die Treppe hinunter.

Im Foyer kam mir Jérôme entgegen. Sein Gesicht war zerknautscht, er hatte Ringe unter den Augen und sein Anzug sah auch nicht mehr so tadellos aus wie gestern noch.

„Das Frühstück wird auf der Terrasse serviert, Monsieur“, sagte er verschlafen und wies auf eine offene Verandatür.

Draußen saßen Henri und Zoé bereits am Tisch. Ihre Stimmen klangen rau, als sie mich begrüßten. Paule knickste ungeschickt und rückte mir den Stuhl zurecht, während Denise die Kaffeekanne vom Servierwagen nahm. Sie stieß damit gegen eine Tasse, welche über den Rand kippte und auf dem Steinboden zerschellte. Agnès warf ihr einen Blick zu, der Bände sprach, und verschwand wortlos, um Kehrblech und Handfeger zu holen.

Kurz darauf gesellte sich Miray zu uns und ließ sich neben mich auf den Stuhl fallen. Sie strahlte, als hätte sie die Nacht an einem anderen Ort verbracht.

„Ich hoffe, ihr habt mir noch etwas übriggelassen“, sagte sie, nahm sich ein Croissant und biss genüsslich hinein.

„Wie es aussieht, hast du gut geschlafen“, stellte ich fest.

Sie nickte und deutete auf zwei Marmeladengläser.

„Na, hast du in der Nacht noch Sir Simon getroffen, Dian?“

Ich zeigte auf das Glas mit der Aprikosenmarmelade.

„Sir Simon?“, fragte ich.

Sie wedelte mit dem Finger und zeigte auf das andere Glas.

„Ja, Sir Simon, das Gespenst von Canterville.“

Ich gab ihr die Erdbeerkonfitüre und brummte: „Was hat das hier mit einer Geschichte von Edgar Allan Poe zu tun?“

„Oscar Wilde“, korrigierte sie mich und nickte zum Dank.

Zoé brach in schallendes Lachen aus. Wir starrten sie überrascht an.

„Ihr benehmt euch, als wärt ihr schon seit Jahren verheiratet!“, rief sie und stieß Henri an.

Ich wollte gerade etwas erwidern, als Laurent vom Seitenflügel auf uns zugerannt kam. Er ruderte aufgeregt mit den Armen.

„Monsieur, Madame“, rief er, „kommen Sie schnell! Das müssen Sie sehen!“

Wir sahen uns überrascht an, dann sprangen wir auf und folgten ihm. Er führte uns zur abgewandten Seite des Flügels. Dort blieb er stehen und zeigte auf die Hauswand, bevor er die Hände in seine kurzen Haare vergrub.

Mit großen, roten Lettern stand dort der Name ÉLODIE auf den Putz geschmiert.

Henri war außer sich. „Soll das ein schlechter Scherz sein?“, rief er empört und stapfte mit geballten Fäusten ins Haus zurück. Seine Frau sah ihm besorgt hinterher.

„Ist das der Name des toten Mädchens?“, fragte Miray.

Zoé schüttelte den Kopf. „Nein, sie hieß Claire. Der Name Élodie sagt mir überhaupt nichts.“

Wir saßen noch eine Weile am Frühstückstisch, aber der Appetit war uns vergangen. Die Croissants blieben im Korb, der Kaffee wurde kalt, an der Marmelade bediente sich eine Wespe. Schließlich erhoben wir uns und zogen uns zurück.

In meinem Zimmer stand Miray am Fenster, die Hände auf die Fensterbank gestützt, und sah schweigend hinaus.

„Was für ein Abenteuer“, seufzte ich. „Wir haben ein Gespenst am See, dieses markerschütternde Poltern in der Nacht und nun diesen Namen an der Hauswand.“

„Den falschen Namen“, murmelte sie. Dann drehte sie sich zu mir. „Nicht den des Mädchens, das im See ertrank. Das ergibt alles keinen Sinn!“

Sie ließ sich rücklings auf mein Bett fallen, ich setzte mich neben sie. Gemeinsam starrten wir Löcher in die Luft und grübelten. Sie sicher über den Spuk, aber mich beschäftigte etwas anderes.

„Miray?“, begann ich. „Was passiert, wenn wir es nicht schaffen, die Aufgabe zu lösen? Werden wir dann für immer hier gefangen bleiben?“

Sie sah mich an, öffnete den Mund, aber sagte kein Wort. Plötzlich sprang sie auf.

„Das wird nicht passieren, Dian! Wir werden das Rätsel knacken. Los, lass uns am See nach Spuren suchen!“

Wir verließen das Zimmer und standen an der Empore, als es an der Tür klingelte. Agnès eilte herbei und öffnete einem Mann, etwa vierzig, kräftig gebaut, teure Kleidung und das rot aufgedunsene Gesicht eines Cholerikers. Er nahm seine Zigarre aus dem Mund und blies dem Mädchen zur Begrüßung eine Rauchwolke entgegen.

„Hast dir reichlich Zeit gelassen, Kindchen!“, knurrte er. „Los, bring mich zu deinem Herrn, er erwartet mich.“

„Ich werde Sie sofort ankündigen, Monsieur Farges!“, sagte Agnès. Ohne eine Miene zu verziehen, führte sie den Besucher in den Salon und entfernte sich.

Wir gingen die Treppe hinab und beobachteten Farges aus sicherer Entfernung. Er stolzierte durch das Zimmer, mit der Selbstverständlichkeit eines Mannes, der noch nie in seinem Leben um Erlaubnis fragen musste. Er befand sich nicht einfach im Raum, er beanspruchte ihn für sich.

Als Paule eintrat, wies er sie knapp an, ihm einen Cognac zu bringen. Im Vorübergehen klatschte er ihr beiläufig auf den Hintern, als wäre sie nicht mehr als ein Möbelstück. Das Mädchen knickste gehorsam und eilte mit gesenktem Kopf davon.

„Aber von dem guten“, rief Farges ihr hinterher, „nicht diesen Fusel, den Henri seinen Gästen vorsetzt!“

Dann entdeckte er uns. Sein Blick blieb an Miray hängen. Ein breites Grinsen huschte über sein Gesicht. Er ließ die Zigarre in einen Aschenbecher fallen und strich sich sein schütteres Haar glatt.

„Ah, welch entzückende Erscheinung!“, schnurrte er und trat näher. „Antoine Farges, Makler. Für Sie, ma chère, gerne nur Antoine. Und wie darf ich Ihr bezauberndes Wesen nennen?“

„Miray“, knurrte sie, „die Nichte von Madame und Monsieur Vignaud.“

Enchanté“, säuselte er, ergriff ihre Hand und gab ihr einen angedeuteten Kuss auf die Finger. Dann streifte sein Blick mich, kalt und abwertend. „Und das da ist Ihr Bruder, nehme ich an?“

„Nein. Dian. Mein Verlobter.“

Das ölige Grinsen fiel augenblicklich aus seinem Gesicht.

In dem Moment kehrte Paule mit einem Tablett zurück, auf dem ein gut gefüllter Cognacschwenker stand. Farges griff sich das Glas und nahm einen Schluck.

„Na, es gibt bessere“, brummte er.

Das Mädchen machte einen Knicks und stellte sich diskret in eine Ecke, bereit für neue Anweisungen.

Er nahm einen weiteren Schluck und betrachtete mich, als wäre ich ein Pferd auf dem Viehmarkt. „Ihr Verlobter also? Er sieht aus wie ein armer Schlucker, Mademoiselle Miray. Verschwenden Sie sich nicht an so einen Taugenichts! Eine Frau wie Sie hat Besseres verdient.“

Miray zog die Braue hoch. „Sie, zum Beispiel?“

Er nickte gönnerhaft. „Mais bien sûr! Ich habe mehr zu bieten als der.“

„Das stimmt.“ Miray machte einen Schritt auf Farges zu, ihre Augen bohrten sich in seine. „Und zwar Arroganz, Respektlosigkeit und die Manieren eines Rüpels. Alles Eigenschaften, die ich abstoßend finde.“

Das saß. Farges Kopf lief dunkelrot an. Er hob die Hand, halb Drohung, halb Reflex. Miray wich keinen Millimeter zurück. Im Gegenteil, sie schien geradewegs zu hoffen, dass er sie schlagen würde.

Seine Hand fing an zu zittern, dann ließ er sie sinken. Er kippte den restlichen Cognac in sich hinein, als wäre es Wasser, und schwenkte das leere Glas wie eine Keule.

„Gibt es in diesem verdammten Haus nichts zu trinken?“, bellte er Paule an. „Kleine, bring mir gefälligst die ganze Flasche!“

In diesem Moment kam Agnès zurück und bat Farges, ihr zu folgen. Kaum drehte er uns den Rücken zu, tauschten wir Blicke aus, verblüfft von der Vorstellung, die uns eben geboten wurde.

„Das war sehr mutig von Ihnen, Mademoiselle“, flüsterte Paule aus ihrer Ecke. Sie zitterte am ganzen Körper. „Es schien, als ob Sie gar keine Angst vor Monsieur hatten!“

„Angst? Vor ihm?“ Ein schiefes Grinsen huschte über Mirays Gesicht. „Autorität ist alles, was er hat, Paule. Widerworte dürften eine neue Erfahrung für ihn gewesen sein.“

Mit einem Nicken deutete sie zur Haustür. Dann ging sie los, und ich folgte ihr nach draußen.

Unsere Spurensuche begann am See. Er sah so verwahrlost aus wie der Rest des Anwesens. Schilf und Binsen überwucherten ihn. Ein schmaler, völlig verwilderter Fußpfad führte am Ufer entlang und endete im dichten Gestrüpp. Erst jetzt erkannte ich, dass das Gewässer viel größer war, als ich dachte. Perfekt, um ein paar Stunden mit einem Ruderboot und einer Angelrute zu verbringen.

Miray verschränkte die Arme. „Also, wenn es hier Spuren gab, wurden sie von Jérôme zertrampelt oder vom Gewitterregen verwischt“, knurrte sie. „Hier kommen wir nicht weiter. Lass uns als Nächstes das Graffiti untersuchen.“

Der Name stand immer noch in riesigen Lettern an der Wand des Seitenflügels. Jérôme hatte einen Eimer und einen Handschrubber geholt und damit begonnen, die Buchstaben abzuwaschen. Mit wenig Erfolg bisher.

Miray sah sich die Schmiererei an, als suchte sie nach einer Signatur des unbekannten Künstlers. Dann befeuchtete sie den Zeigefinger und wischte ihn durch die Farbe.

„Das bringt uns auch nicht wirklich weiter“, murmelte sie.

Ich war anderer Meinung. Miray hatte sich so sehr in ihre Spurensuche verrannt, dass ihr etwas Offensichtliches völlig entgangen zu sein schien: Eine wichtige Eigenschaft unseres unangenehmen Besuchers.

„Es kann nur Farges sein“, sprach ich meinen Verdacht laut aus.

„Farges?“ Sie sah mich verdutzt an. „Wie kommst du darauf?“

„Das kann kein Zufall sein, dass er ausgerechnet jetzt auftaucht. Sagte er nicht, er ist Makler? Bestimmt will er Henri mit dem Spuk weichkochen, das Haus billig zu verkaufen. Vielleicht hat er einen Käufer, oder er will es selbst.“

Miray hob eine Braue. „Du meinst, er spielte das Gespenst am See?“

Ich nickte. „Und an die Wand schmierte er irgendeinen Namen. Die Wirkung verfehlte es nicht.“

„Der Name?“ Sie zerrieb die Farbe zwischen ihren Fingern. „Ich glaube, der wurde mit Tierblut geschrieben. Und das kann eigentlich nur hier aus der Küche stammen.“

„Aus der Küche? Wie kommst du darauf?“

„Die hausgemachten Boudin Noir von gestern Abend, erinnerst du dich?“

„Ja, was ist damit?“

„Nun, das ist gebratene Blutwurst.“

Ich sah sie entsetzt an. „Igitt“, rief ich, „und das hast du mich essen lassen?“

Miray zuckte mit den Schultern. „Es schien dir vorzüglich zu schmecken, so wie du es in dich hineingeschaufelt hast und sogar noch einen Nachschlag wolltest.“

Sie hämmerte mit ihrer Faust gegen die Wand, doch nicht einmal ein Knirschen war zu hören.

„Was meinst du zu den Erschütterungen, Dian? Die kamen eindeutig aus dem Inneren des Hauses.“

„Farges wird sich reingeschlichen haben. Und den Lärm machte er dann mit einem schweren Hammer oder so etwas.“

Miray legte ihren Kopf in den Nacken und blickte zur Turmspitze hoch. „Ich hatte den Eindruck, das Poltern wurde lauter, je näher wir dem Turm kamen. Schauen wir doch mal, was wir dort entdecken.“

In einer Ecke des Esszimmers, halb verborgen hinter einer ausladenden Zimmerpalme, fanden wir den Zugang zum Turm. Die massive Eichentür war unverschlossen, dahinter lag eine steinerne Wendeltreppe. Der Putz war teilweise von der Wand gebröckelt, und ein leichter Windzug trug den Geruch von Muff und nassem Mörtel mit sich.

Die Stufen führten uns eine Etage höher zu einer weiteren Tür. Als wir sie öffneten, standen wir wieder in der Baustelle, die wir nachts durchquert hatten.

Noch eine Etage höher endete die Treppe an einer schmalen Brettertür. Daneben lehnte eine Holzleiter, alt, aber stabil. Sie reichte gut vier Meter hoch und führte durch eine Luke zum Dachboden der Turmspitze.

Miray griff plötzlich nach meiner Hand. Ihre Fingernägel gruben sich in meine Handfläche, ihre Augen waren starr auf die Luke gerichtet.

„Dian“, flüsterte sie, ihre Stimme kaum hörbar, „ich kletter’ da nicht hoch, ja? Kannst du das machen?“

Ich sah sie überrascht an. Wo war die mutige Miray, die sich vorhin noch mit einem ausgewachsenen Choleriker angelegt hatte?

„Du hast Höhenangst?“, fragte ich besorgt.

Sie nickte nur.

„Dann warte hier. Ich gehe nachschauen, was da oben ist.“

Die Leiter knarrte und bog sich unter meinem Gewicht, aber sie hielt. Ich zwängte mich durch die Luke und gelangte in einen kreisrunden, leeren Raum unter dem offenen Gebälk des Kegeldaches. Eine Fensterreihe zog sich rundherum an der Wand entlang und bot einen weiten Blick über den See und den Park. Einige Scheiben waren von der Witterung zerbrochen. Tauben und Fledermäuse nutzten den Ort als Unterschlupf. Ihr Dreck bedeckte den Boden, der Gestank nahm mir fast den Atem.

„Ich glaube, hier oben war schon lange keiner mehr“, rief ich hinunter und musste husten. „Lass uns verschwinden.“

Ich stieg die Leiter hinab. Als ich unten ankam, wich Miray ein Stück zur Seite. Ihr Blick streifte mich kurz, dann sah sie zu ihren Füßen. „Danke“, sagte sie knapp, dann stand sie schon an der Brettertür und betätigte die Klinke.

Die Angeln quietschten und knarrten, als sie die Tür aufschob. Dahinter lag ein großer, staubiger Dachboden. Wir tasteten nach einem Lichtschalter, doch da war nichts, kein Schalter, keine Lampe, keine Leitung. Durch ein paar ovale Gaubenfenster mit blinden Scheiben fiel etwas Licht träge auf alte Bettgestelle, kaputte Wandtafeln und schiefe Schulbänke. Relikte aus der Zeit des Internats, abgeladen und vergessen. In der Ferne tickte ein Uhrwerk, langsam und gleichmäßig.

Miray verzog den Mund. „Hier ist nichts außer Gerümpel“, knurrte sie.

Ich nickte. „Vielleicht kamen die Geräusche aus dem Keller, wie Laurent vermutete. In so alten Häusern kann man das nie so genau sagen.“

Wir zogen die Tür wieder zu und folgten der Wendeltreppe nach unten, bis wir am anderen Ende das Kellergewölbe erreichten. Ein Labyrinth von Gängen und Kammern erwartete uns, vollgestellt mit Vorräten und Weinflaschen. Kabel und Rohre zogen sich wie Adern über Decke und Wände. Wir passierten eine Waschküche und ein Kohlelager, bevor wir die Küche erreichten. Von dort führte eine Eisentür zurück in einen abgelegenen Teil des Gartens.

Wir umrundeten das Gebäude und ließen uns vorne auf den Rand des Springbrunnens nieder.

„Nichts“, knurrte Miray frustriert. „Nichts, nichts, und wieder nichts. Keine Spuren vom Gespenst am See, keine Hinweise an der beschmierten Wand und nichts, was diese nächtlichen Geräusche erklären würde. Wir fischen mit Poolnudeln.“

Ich nickte. Dann knurrte mein Magen. Laut.

Verlegen sah ich sie an. „Meinst du, Jérôme bringt uns was zur Stärkung? Kaffee und Kuchen, oder so?“

Sie stöhnte. „Sag bloß, du hast schon wieder Hunger!“

Ihr Blick wanderte zur Uhr auf dem Dach.

„Dieses blöde Ding ohne Zeiger macht mich noch ganz kirre. Jedes Mal will ich die Uhrzeit ablesen, aber…“

Plötzlich riss sie die Augen auf, starrte nach oben.

„Verdammt! Wie konnte mir das entgehen?“, rief sie. „Das Ticken! Dabei ist da kein Strom!“

Ich sah sie verwirrt an.

„Die Uhr arbeitet mechanisch, Miray“, sagte ich, als müsste ich ihr das tatsächlich erklären. „Die braucht keinen Strom, man muss sie nur aufziehen.“

Sie packte meinen Arm. „Das meine ich doch! Wer macht sich die Mühe und zieht eine Uhr auf, die keine Zeiger hat?“

Wir eilten zurück ins Haus, hasteten die Wendeltreppe hoch und rissen die Tür zum Dachboden auf. Nun brauchten wir nur dem Ticken zu folgen.

Das Uhrwerk fanden wir in einer dunklen Ecke, ein offenes Gerüst voller Zahnräder, Stangen und Ketten, die sich beinahe unsichtbar langsam bewegten. Im Hintergrund schwang ein Pendel in einem gleichmäßigen Takt, und ein kleines Zifferblatt am Rahmen zeigte die Zeit.

Direkt daneben stand ein provisorisches Holzgestell, vielleicht ein wenig größer als ich, und hastig zusammengezimmert. Oben lagen schwere Zementklumpen, jeder auf einer Art Klappe, die mit einem Riegel gesichert war. Eine Kette verband die Konstruktion mit dem Uhrwerk.

Mir war sofort klar, was das bedeutete: Das Schlagwerk schlug keine Glocke mehr, es setzte stattdessen die Mechanik in Gang. Die Riegel öffneten nacheinander die Klappen, und die Klumpen fielen auf den Boden. Rumms! Wie auf eine riesige Pauke.

Ein leises Rasseln, ein Flügelrad drehte sich, dann tickte die Uhr arglos weiter.

„Da haben wir unser Gespenst!“, jubelte ich. „Es ist bloß ein cleverer Mechanismus!“

Miray nickte. „Und alles ist schon vorbereitet für die nächste Geisterstunde.“ Sie strich mit dem Finger über den Rahmen. „Kannst du die Apparatur irgendwie lahmlegen?“

„Nichts einfacher als das!“ Ich deutete auf einen kleinen Hebel neben dem Zifferblatt. „Damit wird das Schlagwerk abgeschaltet. Das müsste eigentlich reichen.“

„Sehr gut! Wie es aussieht, haben wir einen Plan“, sagte sie und grinste zufrieden. „Heute Nacht legen wir uns auf die Lauer und warten auf unseren Sir Simon.“

Wir verließen den Dachboden und gingen durch den Keller zurück in den Garten. Hinter dem Stall entdeckten wir einen schmalen Weg, der an der Grundstücksgrenze an einem Abhang endete. Eine verwitterte Bank stand dort, mit Blick auf eine große Weide. Wir hatten Zeit totzuschlagen, also setzten wir uns, ließen uns von der Sonne wärmen, lauschten dem Summen der Bienen und sahen den Kühen beim Grasen zu.

Ich dachte an das Frühstück. An unseren Wortwechsel. An Zoé, wie sie lachte und meinte, wir würden uns schon wie ein altes Ehepaar benehmen.

„Weißt du…“, plapperte ich los, „diese Verlobten-Rolle bringst du ziemlich geübt rüber.“

Ich meinte es als Kompliment, doch kaum hatte ich es gesagt, hörte es sich nicht mehr danach an. Verlegen warf ich ihr einen Blick zu. Sie sah mich an, als hätte ich eine Tür aufgestoßen, die besser verschlossen geblieben wäre.

„Damit du’s weißt“, sagte sie trocken, „ich bin Single. War ich immer.“ Sie sah auf die Weide und murmelte leise: „Manche Menschen sind halt nicht gemacht für Beziehungen.“

Ich riss einen Grashalm ab und drehte ihn zwischen den Fingern. „Dann sitzen wir ja im selben Boot“, versuchte ich zu beschwichtigen. „Ich bin auch Single.“

„Das hätten wir dann geklärt“, knurrte sie, stützte das Kinn in die Hände und versank in irgendwelchen Gedanken.

Gegen Abend kehrten wir zum Essen ins Haus zurück. Der Tisch im Esszimmer war reich gedeckt, die Gespräche gezwungen oberflächlich, Zoés Lachen übertrieben unbeschwert. Niemand wagte es, den Geist am See, das nächtliche Donnern oder den Schriftzug an der Wand zu erwähnen. Das machte die Stimmung umso verkrampfter.

Ich stocherte in meinem Essen herum. Vor dem Dîner hatten wir unser Gepäck durchsucht, nach Taschenlampen, einem Feuerzeug, irgendetwas, was uns Licht spenden würde. Vergeblich! Uns blieb nur das Dämmerlicht, um unseren Plan vorzubereiten. Der Gedanke, anschließend den Rest der Nacht auf einem stockfinsteren Dachboden zu verbringen und einem Gespenst aufzulauern, raubte mir den Appetit.

Die Sonne war bereits hinter dem Haus versunken, als wir das Abendessen endlich beendet hatten. Viel Zeit blieb uns nicht mehr, bis es ganz dunkel sein würde. Wir standen auf und entschuldigten uns.

„Ihr geht schon?“, fragte Zoé enttäuscht.

Ich nickte und schwindelte: „Uns fallen die Augen zu. Die letzte Nacht war recht kurz.“

Zoé grinste verschmitzt. „Ja, ja, die Landluft, die hat schon für so manche kurze Nacht gesorgt. Schlaft gut, ihr Turteltäubchen!“

Wir schlichen zur Baustellentür, öffneten sie leise und schlüpften hindurch. Finsternis empfing uns. Das Licht konnten wir nicht einschalten, am anderen Ende hätten wir es nicht wieder abschalten können. Also warteten wir, bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnten.

Schließlich erreichten wir den Turm. Von unten drangen leise die Stimmen der Vignauds zu uns, das Klappern von Geschirr, das Rücken von Stühlen. Wir schlichen die Treppe hoch und standen vor der Tür zum Dachboden. Vorsichtig schoben wir sie auf. Ihr Knarren durfte uns nicht verraten.

In dem spärlichen Licht, das durch die Fenster fiel, konnte ich nur noch Schemen erkennen. Ich ging zum Uhrwerk, meine Hände tasteten sich am Rahmen entlang, bis ich den Hebel fand und umlegte.

Danach trugen wir ein altes Bettgestell in eine Ecke, legten eine Matratze darauf und stellten zur Tarnung zwei Schulbänke davor. Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, klopften wir den Staub von den Sachen, zogen uns die Schuhe aus und legten uns in das quietschende Bett.

„Jetzt können wir nur noch warten“, seufzte ich.

„Mhm“, stimmte Miray zu, „aber wenn diesmal ein höfliches Gespenst an die Tür klopft, gehst du nachsehen.“

Der Mond ging auf und leuchtete durch die ovalen Gaubenfenster. Im Gemäuer hörte ich ab und zu das leise Kratzen und Scharren einer Maus. Das gleichmäßige Ticken des Uhrwerks, es wirkte fast hypnotisch auf mich. Ich musste herzhaft gähnen.

„Nimm deine Hand da weg!“, flüsterte Miray empört.

„Ich habe meine Hände bei mir“, protestierte ich und streckte sie ins fahle Mondlicht. „Siehst du?“

Sie hielt den Atem an. „Wessen Hand ist das dann?“, wisperte sie.

Ihre Stimme klang ernst.

Todernst.

Mein Herz galoppierte los. Ich kreischte, rutschte zur Seite, fiel fast aus dem Bett.

Und Miray – sie lachte laut. „War nur ein Scherz, Dian!“

„Danke“, keuchte ich und rückte wieder neben sie. „Der hat mich mindestens zehn Jahre meines Lebens gekostet.“

„Aber jetzt bist du wach, nicht wahr?“

Die Zeit kroch dahin, und der Dachboden kühlte merklich ab. Wir rückten dichter zusammen, um uns gegenseitig ein wenig zu wärmen. Miray so nah zu spüren, gab mir ein unerwartetes Gefühl von Sicherheit. So unheimlich die Situation war, ein Teil von mir hoffte, dass sie nicht so bald enden würde.

Für einen Augenblick musste ich weggedämmert sein. Ein lautes Rasseln riss mich aus dem Halbschlaf. Es kam vom Uhrwerk. Zahnräder knirschten, das Schlagwerk klickte, doch das Gestell mit den Gewichten blieb bewegungslos. Unsere Sabotage hatte funktioniert.

„Kein Spuk heute Nacht“, flüsterte ich in die Dunkelheit.

„Ja“, flüsterte Miray zurück. Ich konnte sie beinahe im Dunkeln grinsen sehen. „Das wird Sir Simon nicht gefallen. Lassen wir uns überraschen, wer jetzt nachschauen kommt.“

Die Minuten vergingen. Dann eine Stunde. Dann zwei.

Aber niemand kam.

Irgendwann schnarchte Miray leise. Ich ließ sie schlummern, wollte sie erst wecken, wenn etwas passierte. Dann fielen auch mir wieder die Augen zu.

Ein Schütteln holte mich aus dem Schlaf. Ich grummelte leise und drehte mich auf den Rücken. Warmes Tageslicht fiel durch die Fenster in die staubige Luft. Ich blickte auf Holzbalken und Dachziegel.

Ach ja, der Dachboden…

„Wach auf, Dian!“, hörte ich Mirays sanfte Stimme. „Wie es aussieht, hat Sir Simon uns versetzt. Lass uns nach unten gehen, bevor Zoé uns suchen kommt.“

Ich nickte, reckte mich und sah mich um. Das Licht der Morgensonne spiegelte sich im Rahmen des Uhrwerks wider. Ich ging hin und begutachtete es. Der Hebel war immer noch umgelegt, und nebenan ruhten die Gewichte auf den Klappen des Holzgerüstes. Die Konstruktion wirkte zwar improvisiert, war aber durchaus mit Sachverstand gemacht.

„Wer immer das gebaut hat, wusste, was er tat“, sagte ich und wollte gerade zurück zum Bett, als ich in einen spitzen Gegenstand trat.

Ich schrie laut auf.

„Was ist?“, rief Miray erschrocken.

„Eine dumme Idee, hier in Socken herumzulaufen“, schimpfte ich und zog einen großen, runden Holzsplitter aus meinem Fuß. „Zum Glück war es kein rostiger Nagel.“

„Was ist das?“, fragte sie. „Lass mal sehen!“

Sie nahm das Holzstück und betrachtete es sich von allen Seiten. Dann fing sie an zu grinsen.

„Glückwunsch, Dian! Du hast das fehlende Puzzlestück gefunden. Jetzt weiß ich, wer der mysteriöse Sir Simon ist.“

Ich stutzte. „Es ist bloß ein Splitter!“

„Das ist kein Splitter!“ Sie hielt mir das umgeknickte Holzstück vor die Nase. „Das ist ein Zahnstocher, auf dem jemand herumgekaut hat.“

Meine Augen wurden groß. Konnte es wahr sein?

„Es ist Laurent!“, rief ich überrascht aus. „Als die Dienstmädchen unsere Koffer aus dem Wagen holten, stand er daneben und kaute auf so einem Ding!“

„Richtig, Laurent!“ Sie schnippte mit dem Finger. „Er war nicht bei uns, als das Gespenst am See erschien. Er konnte sich Tierblut aus der Küche besorgen und damit den Namen an die Wand schmieren. Er konnte die Zementsäcke stehlen. Und er ist geschickt genug, so eine Apparatur zu bauen.“

„Endlich eine heiße Spur, Miray!“ Ich klatschte in die Hände. „Aber was machen wir jetzt?“

„Jetzt?“ Sie deutete nach draußen. „Jetzt nutzen wir die Gunst der frühen Stunde und durchsuchen den alten Stall, bevor Laurent dort aufkreuzt. Vielleicht finden wir dort weitere Hinweise.“

Ich fröstelte ein wenig, als wir durch den Garten zum Stall gingen. Die Tür am hinteren Ende war nicht verschlossen, also gingen wir hinein und standen in einer kleinen Werkstatt. Eine Zwischentür trennte sie vom Stallbereich, wo jetzt das Auto der Vignauds abgestellt war.

Mein Blick fiel sofort auf eine massive Tischbohrmaschine. Sie stand neben einer Werkbank, die tadellos aufgeräumt war. An der Wand hingen Hämmer, Zangen, Schraubendreher, Meißel und andere Werkzeuge, alles fein säuberlich angeordnet und an seinem festen Platz. In einem großen Regal lagerten verschiedene Hölzer, Rohre und andere Materialien. Es roch nach Holz, Benzin und Schmierstoffen. Ein Geruch, der mir nur allzu vertraut war.

Vor dem Fenster befand sich ein Schreibtisch wie in einer Behörde: Eine große Arbeitsplatte und Schubladen an jeder Seite. Eine schwarze Tischlampe bog sich über eine abgenutzte Schreibunterlage aus braunem Leder, die mit schnell hingekritzelten Notizen und etlichen Brandflecken übersät war.

Miray öffnete eine der Schubladen, wühlte darin und zog ein kleines Medaillon an einer Halskette hervor. Sie klappte die Kapsel auf, nickte kurz und drückte sie mir in die Hand. Darin waren zwei kleine Porträtfotos eingelegt, links eines von Laurent, rechts das einer Frau im selben Alter. Ich klappte sie wieder zu und fand außen eine Gravur.

„L & É“, las ich vor. „Das ‚L‘ steht sicher für Laurent.“

„Mhm“, nickte Miray. „Und das ‚É‘ könnte für Élodie stehen. Wie es aussieht, waren sie ein Paar.“

Sie nahm eine kleine Metallfigur aus der Schublade.

„Das wird der Löwe sein, den die Zwillinge am See gefunden haben. Was meinst du?“

Es war tatsächlich ein kleiner, brüllender Löwe aus Gusseisen, montiert auf einer Metallplatte mit Gewinde. Ich erkannte sofort, worum es sich handelte. Fasziniert drehte ich das Stück in meiner Hand, wog es und betrachtete es von allen Seiten.

„Das ist die Kühlerfigur eines alten Peugeots! Was für ein schönes Stück, richtig solide Arbeit. Aber sie ist arg verrostet, sie muss lange im Wasser gelegen haben. Außerdem ist die linke Vorderpfote abgebrochen.“

Miray hatte zwischenzeitlich eine Mappe mit Zeitungsausschnitten gefunden und auf dem Tisch ausgebreitet.

Sie tippte auf ein Foto. „Erkennst du sie?“

„Ja, das ist die Frau vom Medaillon. Wer ist sie?“

„Es ist Élodie! Vor etwa drei Jahren wurde sie nachts von einem Auto angefahren. Der Fahrer floh, sie starb am Unfallort.“

Sie zeigte auf einen anderen Artikel.

„Und hier steht, dass am selben Abend Henris Peugeot gestohlen wurde, während er mit einem Geschäftspartner auf einer Soirée war.“

„Ein Unfall mit Fahrerflucht und ein Peugeot, der Henri gestohlen wurde. Glaubst du an Zufälle?“

Miray schnaubte. „Sicher nicht! Laurent glaubte wohl auch, dass Henri etwas damit zu tun hatte. Aber der Verdacht alleine reichte ihm nicht…“

„…also ließ er sich von den Vignauds als Chauffeur einstellen, um heimlich nach Spuren zu suchen“, komplettierte ich.

Sie nickte. „Dann brachten die Zwillinge ihm den Löwen! Er erkannte ebenfalls, dass es die Kühlerfigur eines Peugeots war. Das war der Beweis, nach dem er suchte: Der Wagen, der Élodie tötete, wurde nicht gestohlen, sondern hier im See versenkt.“

„Das macht Sinn“, sagte ich. „Aber weshalb der Spuk?“

„Um Henri zu zeigen, dass er das Geheimnis gelüftet hat. Das Gespenst am See verriet, dass er den Peugeot gefunden hatte. Und der Name an der Wand, den dürfte Henri nur allzu gut aus der Zeitung kennen.“

„Und die Maschine? Das Poltern in der Nacht?“

Miray zuckte mit den Schultern. „Henri ist ein Mann mit Geld und Einfluss, Laurent nur ein Chauffeur. Die Polizei würde ihm nicht glauben. Vielleicht will er erreichen, dass Henri sich freiwillig stellt?“

„Falsch“, tönte eine kräftige Stimme hinter uns. „Das Schwein hat Henri erpresst. Nun, es ist ihm nicht gut bekommen.“

Wir fuhren herum. Farges stand in der Zwischentür, eine Pistole in der Hand, die Mündung direkt auf uns gerichtet.

„Na großartig! Monsieur Farges!“, stöhnte Miray. „Stippvisite im Stall, bevor Sie weiter um die Kneipen ziehen?“

„Spott, ma chère?“ Er lächelte dünn. „Glauben Sie wirklich, das ist klug in Ihrer Lage?“

Er schwenkte die Pistole ein wenig, und wir erhoben langsam die Hände.

„Nach dieser lächerlichen Spuknacht rief Henri mich zu sich“, fuhr er fort. „Auf seinem Schreibtisch lag ein Brief, ein jämmerliches Ultimatum: Er soll ein Geständnis unterschreiben, sonst würde die Presse Wind bekommen. Henri hatte eine Heidenangst, wie immer. Er wollte, dass ich die Sache für ihn regle.“

„Was haben Sie mit Laurent gemacht?“, fragte Miray kühl.

Farges zog eine grinsende Grimasse. „Der Crétin tappte gestern Abend in meine Falle. Ich hatte was für ihn, aber es war kein Geständnis. Jetzt sitzt er brav hinter dem Steuer seines Autos und macht ein kleines Nickerchen.“

Er deutete mit dem Daumen hinter sich in den Stall.

Miray hob das Kinn. „Warum erledigen Sie eigentlich die Drecksarbeit für Henri? Was springt dabei für Sie heraus?“

Dann weiteten sich ihre Augen.

„Ah, jetzt begreife ich! Henri saß gar nicht am Steuer, nicht wahr? Das waren Sie! Sie waren jener Geschäftspartner, der mit ihm auf der Soirée war. Sie tranken ein paar Gläser zu viel und unternahmen dann zusammen mit ihm eine kleine Spritztour in seinem Peugeot.“

„Sie sind ein kluges Mädchen“, nickte Farges gönnerhaft, als hätte sie eine Schulaufgabe gelöst.

Miray ließ nicht locker. „Nach dem Unfall drohten Sie Henri: Wenn er nicht mitspielt, würden Sie der Polizei erzählen, er sei gefahren. Also hielten Sie zusammen, versenkten das Auto im See, erfanden die Geschichte vom Diebstahl und gaben sich gegenseitig das perfekte Alibi, den ganzen Abend bei der Soirée gewesen zu sein. Alles hätte gut sein können, bis Laurent hinter das Geheimnis kam.“

Farges lachte laut. „Sie fangen an, mich zu faszinieren. Aber leider wird Ihre Karriere als Commissaire Maigret gleich enden.“

„Was haben Sie vor?“, rief ich aufgeregt.

Farges Lächeln wurde kalt. „Was ich vorhabe? Nun, was denken Sie? Sie werden sich gleich zu Laurent ins Auto gesellen. Und dann wird der Stall ein bedauerliches Opfer der Flammen. Bis die Feuerwehr eintrifft, wird er und alle Beweise darin längst ein Haufen Asche sein.“

Langsam schwenkte er die Waffe auf Miray.

„Los, Mademoiselle. Nehmen Sie ein Seil und fesseln Sie Ihren Verlobten. Danach wird es mir ein besonderes Vergnügen sein, Ihnen höchstpersönlich die Fesseln anzulegen.“

„Geben Sie auf, Farges“, sagte Miray unbeeindruckt. „Ich möchte Ihnen nicht wehtun.“

Er brach in schallendes Gelächter aus. „Mir wehtun? Mademoiselle, sind Sie verrückt? Sie scheinen zu vergessen, wer hier die Waffe in der Hand hält!“

Dann ging alles ganz schnell. Mit einer blitzartigen Bewegung packte Miray Farges Arm und drückte ihn zur Seite, sodass die Mündung von uns fort zeigte. Ein Schuss löste sich, eine Fensterscheibe hinter uns zerbarst. Noch ehe Farges reagieren konnte, schlug sie den Revolver aus seiner Hand. Die Waffe fiel zu Boden, Miray kickte sie zu mir.

Im selben Atemzug drehte sie sich in ihn hinein und schleuderte ihn mit einem Hüftwurf nach unten. Laut krachend schlug er auf, doch Miray behielt seinen Arm im Griff, verdrehte ihn und fixierte seinen Körper mit dem Fuß. Farges wand sich unter ihrer Gewalt, keuchte, versuchte sich zu befreien. Doch es nutzte nichts. Ihr Hebel wurde nur noch fester, bis er aufstöhnte und seinen Widerstand aufgab.

„Und was nützt Ihnen Ihre Waffe jetzt?“, fragte sie trocken.

Ich hob den Revolver auf und richtete ihn auf Farges, während sie ihn am Arm hochzog.

„Sie sind wahrlich zu bedauern, Monsieur“, knurrte er mir zu. „Mit so einem Mannsweib hält es kein Kerl lange aus.“

„Ihr Bedauern brauche ich nicht, Monsieur Farges“, erwiderte ich und grinste. „Ich bin dankbar, dass sie mir eben den Hals gerettet hat.“

Plötzlich stand Agnès im Türrahmen. „War das ein Schuss?“, rief sie aufgeregt. Sie sah sich um, bemerkte Farges, und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Bitte lauf ins Haus und ruf die Polizei“, bat Miray sie. „Monsieur Farges möchte ein umfangreiches Geständnis ablegen.“

„Sehr gerne, Mademoiselle“, sagte Agnès. Sie drehte sich zur Tür, blieb kurz stehen und sah ihn an. „Und diesmal, Monsieur, wird das Kindchen Sie nicht warten lassen!“

Dann rannte sie los, während wir Farges weiter Gesellschaft leisteten.

In ihrem Zimmer saß Miray auf dem Bett und stopfte die letzten Sachen in ihren Koffer. Meiner stand schon fertig gepackt in meinem Zimmer. Ich lehnte im Türrahmen und sah ihr zu, aber ein Gedanke ließ mich nicht los.

„Sag mal, wie bist du mit Farges fertig geworden? Das sah sehr nach Kampfsport aus.“

Sie nickte verlegen. „Das war es auch. Frag mich bitte nur nicht, welche Art.“

Ich hatte längst bemerkt, dass Miray kräftig war und sich fit hielt. Aber diese neue Seite an ihr überraschte mich doch.

„Deshalb hattest du gestern im Salon keine Angst vor ihm, als er dich schlagen wollte.“

Wieder ein Nicken.

„Und Monsieur Martens, damals im Gepäckwagen des Orient-Express… Da hast du auch nachgeholfen, nicht wahr?“

Sie blies spielerisch über ihre Faust und grinste.

„Also, ich finde ich das sehr beeindruckend, Miray!“

„Findest du?“ Ihr Grinsen verflog. „Eigentlich verabscheue ich Gewalt.“

Der Widerspruch irritierte mich. „Warum hast du es dann gelernt?“

Sie wurde ernst. „Ich habe es mir nicht ausgesucht, Dian. Zwei Träume vor unserer Begegnung fand ich mich in einer Kampfschule irgendwo im tiefsten Asien wieder. Die Schule lag in völliger Abgeschiedenheit, sie glich einem Kloster mitten in einer endlosen Einöde. Fast zehn Monate lang saß ich in diesem Albtraum fest, bis ich es schaffte, den Meister im Kampf zu besiegen.“

Ich erstarrte. Bisher hatten die Träume nur ein paar Stunden gedauert. Dass man fast ein Jahr darin feststecken konnte, erschütterte mich.

Mein Blick glitt zu ihrer Schulter. „Deine Narbe auf dem Oberarm, stammt sie von dort?“

Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. „Da hat mich aber jemand sehr genau betrachtet.“

Verlegen schaute ich zur Seite.

Sie nickte. „Ja, sie stammt von einem Kampf. Mein Gegner schwang eine Fackel, ich passte nicht auf und er verbrannte mich. Seitdem trage ich die Narbe in meinen Traumreisen. Ein Mahnmal dafür, besser aufzupassen.“

„Das heißt, wenn Farges Schuss einen von uns getroffen hätte…“ Meine Hand fuhr mir in die Haare. „Wir hätten sterben können?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Sag mir Bescheid, wenn du es herausgefunden hast.“

Dann klappte sie den Koffer zu, stand auf und klingelte nach den Mädchen.

Während Agnès und Paule unser Gepäck zum Auto trugen, verabschiedeten wir uns von Tante Zoé, Onkel Henri und den Zwillingen. Danach schüttelten wir auch den Dienstmädchen die Hände, bevor Jérôme uns die Tür des Citroëns öffnete.

„Ich bedauere, aber unser Chauffeur ist zurzeit etwas indisponiert“, sagte er und schnalzte leise. „Sie werden mit mir vorliebnehmen müssen.“

„Wie geht es Laurent?“, fragte ich besorgt.

Jérôme ließ den Motor an und sah zu mir herüber. „Eine Gehirnerschütterung und ein paar Blessuren, Monsieur. Die Ärzte meinen, in ein paar Tagen dürfe er das Krankenhaus wieder verlassen.“

Ich nickte. „Richten Sie ihm bitte unsere besten Wünsche aus.“

„Selbstverständlich, Monsieur.“

Ich zögerte kurz. „Und Farges?“

Jérôme legte knirschend den Gang ein. „Monsieur Farges? Er wird nach seinem Geständnis etwas länger die Gastfreundschaft der Justiz genießen.“

Der Wagen setzte sich in Bewegung. Wir blickten zurück und winkten zum Abschied, bis das Haus der Vignauds hinter den Bäumen verschwand. Kurz darauf passierten wir das große Tor und bogen auf die Landstraße ein.

„Bist du bereit?“, fragte Miray und deutete auf ihren Arm. Ein grüner Kreis zierte ihr Tattoo auf dem Handgelenk.

Ich nickte. „Bis zum nächsten Traum, Miray.“

Ein letztes Mal sah ich tief in ihre Augen. Sie waren eisblau, nicht silbergrau. Ich würde es nie wieder vergessen.

Dann berührten wir unsere Handgelenke, und alles wurde dunkel.

Episode 2 „Élodies Fluch“ v2.1 vom 5. September 2025