Der große Trampera
Es gab kein Zurück mehr für Jonathan Steele. Er sprang über den Felsrand und stürzte in den Abgrund.
Totenstille im Saal. Ich griff in meinen Eimer Popcorn, doch fand nur den Boden. Wie konnte mein Kumpel mich bloß überreden, ihn in diesen langweiligen Film zu begleiten?
Auf der Leinwand öffnete sich Steeles Fallschirm. Begleitet von epischer Orchestermusik segelte er elegant ins Tal, während auf dem Berg die Radarstation des Schurken Albertus Frost in einem gigantischen Feuerball explodierte.
Ich gähnte und schloss für einen Moment die Augen. Früher hatte ich Agentenfilme geliebt. Aber das war, bevor ich selbst im Orient-Express einen Juwelenräuber verfolgt und einen echten Grafen in seinem Vampirschloss besucht hatte. Und bevor ich eine echte Traumfrau als Sidekick hatte – so wie Steele sein Steele-Girl.
Neben mir hörte ich ein lautes Schnarchen. Da langweilt sich wohl noch jemand, dachte ich, und öffnete meine Augen.
Das grelle Licht der Sonne blendete mich, bis ich mich an die Helligkeit gewöhnte. Ich saß nicht mehr auf dem harten Kinositz, sondern lag ausgestreckt auf einer bequemen Sonnenliege. Nur mit einer roten Badehose bekleidet, blickte ich durch eine Sonnenbrille in einen makellos blauen Himmel.
Ich richtete mich auf und sah mich um. Meine Liege stand am Rand eines großen Swimming Pools. Er war modern und schnörkellos, eine rechteckige Wanne, eingelassen in eine große, betongeflieste Terrasse. Das azurblaue Wasser glitzerte in der Sonne und lud bei gefühlten 35 Grad zu einer erfrischenden Abkühlung ein.
Ein großer Garten umsäumte die Terrasse, mit Bäumen, Sträuchern und Palmen, liebevoll und aufwändig gepflegt. Den Abschluss bildete ein schmuckloser, aber luxuriöser Wohnkubus. Er hatte zwei Etagen und eine weiß getünchte Fassade mit großen Fensterscheiben.
Auf der gegenüberliegenden Seite endete das Anwesen an einer Brüstung aus Panzerglasscheiben. Dahinter lag nichts weiter als ein fantastischer Panoramablick in die Ferne auf endlose und karge Hügellandschaften. Am Horizont ragten etliche Wolkenkratzer in den Himmel wie Stalagmiten. Ich erkannte die Skyline sofort. Sie gehörte zu Los Angeles.
Wieder hörte ich das Schnarchen. Es kam von der Sonnenliege neben mir. Dort schlief Miray in einem hellblauen Bikini und mit einer großen silbernen Sonnenbrille, in der sich der Himmel spiegelte. Ihre gerötete Haut verriet, dass sie bereits etwas zu lange in der Sonne brutzelte, und ihr verkatertes Gesicht, dass ihre letzte Nacht recht kurz gewesen sein musste.
Zwischen unseren Liegen stand ein kleiner Tisch, darauf zwei Getränkegläser auf einem silbernen Tablett, gefüllt mit einer orangen Flüssigkeit. Ich nahm mein Glas und probierte einen Schluck. Es war eiskalter, frisch gepresster Orangensaft. Köstlich!
Die kräftige Stimme einer Frau ertönte aus dem Haus. „Dian!“, rief sie. „Dian, wo steckst du?“
Die Frau erschien auf der Terrasse. Sie hatte sanfte Fältchen in ihrem Gesicht, die sie mit Make-up geschickt zu mildern versuchte. Ihr elegantes, helles Outfit zeigte ihren Sinn für geschmackvolle Mode. Als sie mich bemerkte, winkte sie mich heran. „Dian! Wecke deine nichtsnutzige Schwester und kommt beide rein! Eure Mutter braucht Hilfe.“
Mit den Worten drehte sie sich um und ging mit resoluten Schritten wieder in das Haus zurück.
„Wer ist diese Frau?“, brummte Miray verschlafen. „Und warum brüllt sie so?“
Sie richtete sich auf und sah sich um. Dann entdeckte sie ihr Glas, schnupperte vorsichtig daran, grinste gequält und trank es gierig in großen Schlücken aus.
„Was ist mit dir?“, fragte ich behutsam.
„Ich habe furchtbare Kopfschmerzen“, krächzte sie mit belegter Stimme. „Ich muss gestern ordentlich gefeiert haben. Dabei trinke ich eigentlich nicht. Wo sind wir hier?“
„In Los Angeles, bei unserer Mama. Sie möchte uns sehen.“
Miray schob ihre Sonnenbrille auf die Nasenspitze und blinzelte mich mit zugekniffenen Augen an. „Unsere Mama?“
„Ja, unsere Mama, Schwesterherz.“
Mit einem genervten Schnauben setzte sie sich die Brille wieder auf. „Nenn mich nie wieder so!“
Ich half Miray von der Liege und führte sie durch eine breite Verandatür ins Haus.
Wir betraten eine große, offene Küche mit weiß lackierten Schränken. Auf einer Anrichte aus hellem Marmor fiel eine knallrote Espressomaschine sofort ins Auge. Ein langer Tresen mit Barhockern trennte den Kochbereich vom Wohnzimmer, wo ein weicher Teppich und ein bequemes Ledersofa für eine Spur Gemütlichkeit sorgten.
Unsere Mutter kramte im Kühlschrank herum und zog schließlich eine Milchpackung hervor. Als sie sich umdrehte, fiel ihr Blick auf uns.
„Da seid ihr ja endlich!“, sagte sie mit gekränkter Stimme. Sie goss sich einen Schuss Milch in eine große Tasse Kaffee. Dann warf sie zwei Stück Zucker hinein.
„Was für ein Affront! Was für eine Beleidigung!“, schimpfte sie.
Es folgte ein dritter Zuckerwürfel.
Ich musste unwillkürlich grinsen. Ein wenig erinnerte mich diese Mutter an meine eigene. „Was hat dich denn so aufgebracht?“, fragte ich.
Sie schlug mit der Faust auf den Tresen. „Da denkt man, man kennt einen Kollegen, ist gut mit ihm befreundet – und dann so was! Einfach unfassbar!“
Zwei weitere Würfel fielen in das Getränk, bevor sie es mit lautem Geklapper umrührte.
„Welcher Kollege, Mama?“
„Johnny Trampera!“, rief sie, als hätte ich wissen müssen, von wem sie spricht. „Der Johnny, der in ‚Ein Kuss nach Mitternacht‘ an meiner Seite spielte. Der Johnny, der aus dem Stegreif eine Laudatio für mich hielt, als ich den goldenen Cinélique gewann. Der Johnny, der immer so charmant war, ein perfekter Gentleman!“ Sie warf ihre Hände in die Luft. „Und jetzt das!“
„Und jetzt… was?“
„Johnny hat eine neue Luxusvilla in Malibu. Eine riesige Protzburg am Pacific Crest Drive, mit allem Pipapo. Sie ist nicht zu verfehlen, so pompös wie sie aussieht. Das hat Celeste mir gerade erzählt. Am Sonntag gibt er eine riesige Einweihungsparty. Sie ist natürlich eingeladen, genau wie etliche andere Freunde.“
„Und dich hat er vergessen?“
Sie nickte aufgeregt. „Vergessen! Mich! Könnt ihr euch das vorstellen? Die ganze Hollywood-Prominenz wird da sein. Aber ich bin ihm wohl nicht wichtig genug! Celeste hat mit ihrem Spott nicht gespart, die blöde Gans.“
Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und verzog angewidert ihr Gesicht. Ein weiterer Zuckerwürfel folgte und teilte das Schicksal seiner Artgenossen.
Miray lehnte sich gegen den Tresen und rieb sich die Schläfen. Der dramatische Auftritt dieser Frau schien ihren Kater nicht erträglicher zu machen. „Kannst du ihn nicht einfach darum bitten, dich einzuladen?“, knurrte sie. „Sicher war es nur ein Versehen.“
Unsere Mutter stieß einen spitzen Schrei der Empörung aus. „Niemals würde ich um eine Einladung betteln, so wahr ich Amanda Brown heiße!“
Erwartungsvoll sah sie uns an, wartete auf eine Reaktion von uns.
„Und was sollen wir jetzt machen?“, fragte ich vorsichtig.
„Mir doch egal!“, donnerte Amanda. „Wofür füttere ich euch verwöhnten Gören durch? Lasst euch etwas einfallen und helft eurer Mutter!“
Aufgebracht schüttete sie den Kaffee in die Spüle, verließ die Küche und schritt eine Treppe hoch. Oben angekommen verschwand sie in einem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
„Endlich ist Ruhe“, stöhnte Miray.
Ich sah sie mitleidig an. „Wenigstens ist diesmal ziemlich klar, was unsere Aufgabe ist.“
„Meinst du? Schau mal hier!“
Sie hielt ihr Handgelenk hoch und zeigte mir ihr Tattoo. Erschrocken blickte ich auf mein eigenes, aber das sah genauso aus.
„Drei Striche?“
Miray nickte. „Es gibt eine dritte Person! Wir werden sie finden müssen, denn ohne sie kommen wir nicht wieder weg.“
Ich sah zur oberen Etage. „Mama vielleicht?“
„Hattest du den Eindruck, dass Amanda nicht in diese Welt gehört?“ Sie seufzte. „Und hör bitte auf, sie Mama zu nennen! Das macht mich fertig.“
Sie hatte natürlich recht. Der Einstieg in einen neuen Traum erforderte jedes Mal ein wenig Zeit, bis man sich zurechtgefunden und auf seine Rolle eingestellt hatte. Amanda wirkte jedoch alles andere als unsicher. Es war offensichtlich, dass das hier ihre Welt war.
Wir betraten das Wohnzimmer. Der Kamin an der Wand zog unseren Blick gleich auf sich. Passend zum Rest des Hauses war er ein breiter, geometrischer, schnörkelloser, weißer Kasten.
Sein Sims trug eine kleine goldene Figur, eine geschwungene, feminin anmutende Gestalt, die beinahe zu tanzen schien. Vermutlich war es der Cinélique-Filmpreis, den Amanda gewonnen hatte. Sie war so geschickt platziert, dass sie auffiel, ohne aufzufallen.
Ich nahm sie vom Sims und betrachtete die Plakette, die auf einem Sockel aus poliertem Marmor angebracht war. „Scarlet Summers, 1989“, las ich vor. „Sagt dir das etwas?“
Miray schüttelte ihren Kopf. „Das klingt nach dem Titel einer furchtbar romantischen Liebesschnulze! Ist nicht so mein Ding.“
Vorsichtig stellte ich die Figur zurück und nickte. „Ich mag auch lieber Actionfilme.“
Links neben dem Kamin hingen Bilder an der Wand. Neugierig warfen wir einen Blick darauf. Es waren Fotos von Amanda, manche in Farbe, manche in Schwarzweiß, eingerahmt in schwarzen Holzrahmen und weißen Passepartouts. Die meisten wurden an Filmsets aufgenommen. Sie musste bereits eine lange und spannende Karriere als Schauspielerin hinter sich gebracht haben.
„Wow!“, rief Miray plötzlich und hing ein Bild von der Wand ab. „Das musst du dir anschauen!“
Es war eine Aufnahme von Amanda in jüngeren Jahren. Sie stand auf einem Spielplatz und hielt zwei Kinder an ihren Händen, einen Jungen zu ihrer Linken und ein Mädchen zu ihrer Rechten. Als ich den Jungen sah, erschrak ich.
„Das bin ich!“, rief ich überrascht. „Das ist ein Kinderfoto von mir!“
Ich betrachtete das Mädchen. Ihr langes, hellblondes Haar war zu Zöpfen zusammengebunden. Sie grinste. Ein Grinsen, das ich unter Tausenden erkennen würde.
Miray nickte. „Ja, das bin ich.“
„Wie kann dieses Foto entstanden sein?“, fragte ich irritiert. „Ich würde mich doch daran erinnern, dass wir uns schon als Kinder kannten. Und an den Moment, als es aufgenommen wurde.“
„Keine Ahnung“, antwortete Miray. „Darüber habe ich auch noch nie nachgedacht. Ich nahm an, dass wir in diesen Träumen einfach erscheinen und wieder verschwinden. Aber anscheinend haben unsere Alter Egos ihre eigene Vergangenheit, und wir leihen uns ihre Körper für eine Weile.“
Sie hing das Bild zurück an seinen Platz. Dann schloss sie die Augen und tippte sich mehrfach nachdenklich auf die Nasenspitze.
„Ich glaube, hier kommen wir nicht weiter“, sagte sie schließlich. „Lass uns zu diesem Trampera fahren. Wenn wir ihm sagen, was los ist, wird er Amanda sicher auf die Gästeliste setzen.“
Ich zog an dem Bund meiner Badehose. „In diesem Aufzug wird er uns nicht sehr ernst nehmen.“
Miray stimmte mir zu. „Irgendwo im Haus werden unsere Zimmer sein. Da finden wir sicher etwas zum Anziehen.“
Tatsächlich fanden wir unsere Zimmer in der oberen Etage. Sie waren groß, hatten Panoramafenster zum Pool und waren sogar mit eigenen Badezimmern ausgestattet.
Das erste gehörte offensichtlich Miray. Es war tadellos aufgeräumt, typisch für sie. Die schreiend pinke Tapete bildete einen grellen Rahmen für einen voll ausgestatteten Schminktisch und einen Kleiderschrank, der seine eigene Hausnummer verdient hätte.
Ich ließ sie dort zurück und fand meines gleich nebenan.
Es sah aus, als hätte das Chaos dort einen sicheren Unterschlupf gefunden. Bunte Poster von Film- und Popstars hingen an den Wänden, manche durchlöchert von Dartpfeilen. Der Boden lag voller Klamotten, aufgeschlagener Zeitschriften und CDs, die ihre Hülle verloren hatten. In der Ecke lehnte ein Laptop, leicht aufgeklappt und achtlos abgestellt. Ein leerer Pizzakarton hatte nur knapp sein Ziel verfehlt, einen überquellenden Papierkorb. Die Unordnung erinnerte mich unangenehm an mein eigenes Jugendzimmer.
Der Kleiderschrank war leer, abgesehen von einem feinen Sonntagsanzug in einer Plastiktüte, wahrscheinlich von Mama ausgesucht. Also blieb mir nichts anderes übrig, als im Wäscheberg neben meinem ungemachten Bett zu wühlen. Schließlich zog ich eine abgenutzte Jeans, ein fleckenfreies Hemd und halbwegs saubere Unterwäsche hervor. „Du solltest hier wirklich mal aufräumen und deine Wäsche waschen“, schimpfte ich leise mit meinem Alter Ego, während ich mich anzog.
Auf dem Schreibtisch lag neben umgestürzten Softdrinkdosen ein Schlüsselbund, an dem ein Türschlüssel und ein Autoschlüssel angebracht waren. Ich steckte ihn ein. Ein Auto würden wir gut gebrauchen können, um zu Tramperas Villa zu kommen.
Miray klopfte an meine Zimmertür, und ich bat sie herein. Sie hatte sich kurze Blue Jeans und eine knappe weiße Bluse angezogen. An ihren Füßen trug sie schwarze Flip-Flops, die ihre hellblau lackierten Fußnägel zur Geltung brachten. Ihr verkatertes Gesicht hatte sie mit Schminke geschickt überdeckt und sich ihre wuschelige Pixiefrisur mit den hellblauen Strähnchen ein wenig zurechtgemacht.
Mit einer erhobenen Augenbraue sah sie sich um. „Was in aller Welt… Dian! Ich habe dich nur fünf Minuten aus den Augen gelassen!“
Ich sah Miray verlegen an. „Das war schon so! Ich schwöre es!“
„Ist das ein Experiment, ob das Zimmer irgendwann zum Leben erwacht und sich selbst aufräumt?“
Sie hob ein pinkes Plüscheinhorn auf, schüttelte ein paar Konfetti aus seinem Fell und drapierte es liebevoll auf den Gipfel des Wäschebergs.
„So, Einhorn mit Aussicht! Ich würde ja sagen, das ist der Mont Blanc, aber schneeweiß ist er wahrhaftig nicht.“
Ich wollte ihr etwas entgegnen, etwas Cooles, schlagfertiges. Stattdessen starrte ich sie an, bis sie aufhörte zu grinsen und mich fragend ansah.
„Stell dir vor, wir wären wirklich zusammen aufgewachsen“, hörte ich mich sagen. „So als Bruder und Schwester.“
Für einen Augenblick sah sie durch mich hindurch in die Leere. Dann grinste sie wieder. „Ich hätte dich vermutlich verprügelt. Jeden Tag. Schon aus Prinzip.“
Ich lachte laut. „Und ich hätte trotzdem immer meine Schokolade mit dir geteilt.“
Sie nahm das Einhorn vom Wäscheberg und kraulte ihm still den Nacken.
„Hast du eigentlich Geschwister?“, fragte sie plötzlich.
„Ich? Nein, ich bin Einzelkind.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ist auch nicht schlecht, so hatte ich meine Eltern ganz für mich. Und du?“
„Zwei Brüder“, sagte sie knapp. „Ich wuchs in einer anderen Familie auf. Sollte die Tochter sein, die sie nicht selbst haben konnten, aber war es irgendwie nie.“
Dann verlor sie sich in Gedanken. Eine unangenehme Stille setzte ein, bis ich es nicht mehr aushielt.
Ich streichelte ihr über die Schulter. „Weißt du was? In diesem Abenteuer sind wir Geschwister auf Zeit!“
Sie nickte. „Wie du meinst. Komm, lass uns abhauen! Unsere Aufgabe erledigt sich nicht von selbst.“
Vor dem Haus erstreckte sich ein großer Vorgarten. Hohe Bäume und dichte Hecken schirmten das Anwesen von der Straße ab und vermittelten ein Gefühl von Privatsphäre. An einer Ecke des Gebäudes befand sich ein Carport, unter dem zwei Autos abgestellt waren.
Auf den ersten Blick erkannte ich, zu welchem Schätzchen der Schlüssel in meiner Tasche passen würde. Vor mir glänzte ein knallroter 1989er Pontiac Firebird Trans Am Convertible. Das Verdeck war offen und gab den Blick auf eine Ausstattung aus weißem Leder frei. Wer auch immer mein Alter Ego in dieser Traumwelt war, er war zwar schlampig, aber hatte einen hervorragenden Geschmack für Autos.
Ich hielt Miray den Schlüssel vor die Nase. „Möchtest du fahren?“
„Nicht, wenn du lebendig ankommen möchtest“, knurrte sie. „Dem Kater nach habe ich sicher immer noch zehn Promille im Blut.“
„Na gut!“, sagte ich, zuckte mit den Schultern und schwang mich auf den Fahrersitz. Ich hatte gehofft, dass sie das Angebot ablehnen würde.
An der Windschutzscheibe hing ein Navigationssystem an einem Saugnapf. Ich gab den Pacific Crest Drive als Ziel ein. Die berechnete Fahrzeit: etwas über eine Stunde. Bei dem sonnigen Wetter und mit offenem Verdeck hätte ich nichts dagegen, wenn die Fahrt länger dauert. Viel länger.
Ich steckte den Schlüssel in das Zündschloss und drehte ihn. Der Anlasser keuchte, bevor der Motor ansprang und wie ein Tiger vor der Jagd schnurrte. Vorsichtig gab ich ein paar Mal Gas und genoss das Aufheulen der Maschine, bevor ich den Gang einlegte. Langsam verließen wir das Grundstück und bogen auf die Straße ein.
Der Navi lotste uns bergab durch endlose Alleen, gesäumt von dichten Bäumen und hohen Palmen. Die breite Straße wurde von gepflegten Gehsteigen flankiert. Dahinter reihten sich Häuser wie Perlen an einer Kette, einige offen und einladend, andere verborgen hinter hohen Hecken oder massiven Toren.
Schließlich erreichten wir den Ozean und bogen auf den Pacific Coast Highway. Von nun an würden wir die Küste entlangcruisen, bis wir in Malibu Tramperas Luxusanwesen erreichten.
Ich ließ den Wagen rollen und steuerte ihn bequem mit einer Hand am Lenkrad. Der Fahrtwind blies mir die frische, salzige Meeresluft ins Gesicht. Das Autoradio spielte den treibenden Pop-Beat der 1980er. Es war der perfekte Moment, um nichts zu sagen und einfach die Fahrt zu genießen.
Aber etwas nagte an mir, seit ich am Pool aufwachte und Miray neben mir liegen sah.
Nervös trommelte ich mit den Fingern auf das Lenkrad, warf einen kurzen Blick zu ihr herüber. Sie hatte sich ihre Sonnenbrille tief ins Gesicht geschoben und sich in ihren Sitz zurückgelehnt. Ihr Arm ruhte lässig auf der Beifahrertür. Nichts schien sie zu bekümmern.
Ich machte das Radio leiser.
„Sag mal, warum hast du nicht angerufen? Du hast es mir doch versprochen!“
Sie seufzte leise, als hätte sie die Frage erwartet. Dann wiederholte sie die Handynummer, die sie auswendig gelernt hatte. Es war meine.
„Eine Frau ging dran“, erzählte sie. „Ich fragte nach dir. Sie rastete sofort aus, beschimpfte mich und sagte, ich soll ihren Mann nie wieder anrufen. Dann legte sie auf. Hätte ich etwas wissen müssen?“
„Ich bin Single, Miray. Keine Ahnung, wen du angerufen hast!“
„Tja“, rief sie und warf ihre Hände in die Luft. „Wie es aussieht, bist du doch nur eine Einbildung in meinem Kopf.“
„Oder du in meinem“, protestierte ich.
Sie nickte bloß und drehte das Radio wieder lauter.
Wir erreichten Malibu und bogen in den Pacific Crest Drive ab. Die Gegend wirkte wie eine Villensiedlung für Superreiche, und ich fragte mich, wie wir zwischen all diesen Luxusbauten Tramperas neues Domizil finden sollten.
Kurz vor dem Ende der Straße trat ich abrupt auf die Bremse. Mein Verstand weigerte sich, zu glauben, was meine Augen sahen.
„Donnerwetter“, rief Miray erstaunt. „Amanda hatte nicht übertrieben! Das Haus ist wirklich nicht zu verfehlen.“
Die Villa, die vor uns stand, war ein architektonisch perfekt gestyltes Gebäude aus nacktem Beton, geschwungenen Kurven und viel Glas. Es wirkte wie ein UFO, das mitten in einem Palmengarten gestrandet war. Im Schatten dieses Palastes verblassten selbst die benachbarten Luxusvillen zu armseligen Strandhütten.
„Nun denn, statten wir Mr. Trampera einen Besuch ab“, sprach ich und stieg aus.
„Erledige du das“, knurrte Miray. „Ich mache in der Zeit ein Nickerchen in der Sonne, vielleicht geht es mir danach besser.“
Ich wuschelte ihr sanft durch das Haar. „Mach das! Ich bin in zwei Minuten zurück, mehr wird nicht nötig sein.“
Der einzige Zugang von der Straße aus war ein verschlossenes Einfahrtstor aus schmiedeeisernen Stäben, durch die man bequem hindurchsehen konnte. Ich trat näher und warf einen Blick hinein. Der Garten dahinter war so makellos, als wäre jeder Grashalm mit der Nagelschere auf Länge gebracht und jedes Stückchen Laub mit der Pinzette aufgelesen worden. Die Palmen standen im perfekten Abstand zueinander und schienen exakt dieselbe Größe zu haben.
„Ein wahrhaft prachtvoller Anblick, nicht wahr?“, ertönte eine Stimme neben mir. „Die Verkörperung von Ordnung und Eleganz, wenn ich das sagen darf.“
Unbemerkt hatte sich ein Mann genähert und auf der anderen Seite des Tores neben mich gestellt. Geschätzt war er um die 50 Jahre alt. Über seinem strahlend weißen Hemd trug er eine anthrazitfarbene Weste, dazu eine Hose, dessen Bügelfalte wie mit einem Lineal gezogen war. Auf dem Kopf trug er eine braune Schiebermütze.
Ich nickte. „Sind Sie Johnny Trampera?“
Er lächelte geschmeichelt, dann schüttelte er seinen Kopf. „Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen, Sir. Nein, ich bin Hopkins, der Majordomus dieses Anwesens, sicherlich nicht dessen Besitzer. Mr. Trampera ist derzeit nicht zugegen. Darf ich erfahren, was Sie von ihm wünschen?“
Ich räusperte mich verlegen. „Meine Mutter, Amanda Brown, ist eine Kollegin und gute Freundin von Mr. Trampera. Jetzt feiert er bald diese gewaltige Einweihungsparty. Und wie es aussieht, hat er vergessen, Amanda einzuladen.“
„Ah, Schauspielerkollegen, wie erfreulich! Aber ‚vergessen‘?“
Ein kurzer Laut entwich ihm, halb Erstaunen, halb Spott.
„Mr. Trampera ist in gesellschaftlichen Angelegenheiten äußerst genau. Ein derartiges Versäumnis erschiene mir höchst unwahrscheinlich.“
„Da haben Sie recht! Und eben deshalb müsste meine Mutter eigentlich auf der Gästeliste stehen, nicht wahr?“
Der Mann entschuldigte sich, ging in ein Wächterhäuschen neben der Einfahrt und kam einen kurzen Augenblick später mit einem Klemmbrett zurück.
„Amanda Brown, sagen Sie?“
Sein Finger wanderte einen Ausdruck hinunter. Er blätterte auf eine zweite Seite, dann auf eine Dritte. Schließlich schüttelte er leicht den Kopf.
„Nein, sie ist tatsächlich nicht auf der Gästeliste vermerkt. Mr. Trampera hat offenbar keine Einladung für sie vorgesehen.“
Ich hibbelte auf meinen Beinen. „Mr. Trampera wird es später sicher furchtbar peinlich sein, sie vergessen zu haben. Sie könnten Ihren Herren vor diesem Fauxpas bewahren und meine Mutter einfach auf die Liste setzen.“
Sein bisher leicht arrogantes Lächeln wich einem ernsten Gesichtsausdruck. „Mr. Trampera hat die Gästeliste persönlich zusammengestellt. Es ist meine Aufgabe, sie durchzusetzen, nicht, sie zu kuratieren. Ich muss Ihre impertinente Bitte mit Nachdruck zurückweisen!“
Dieser Mann war aus Granit. Er zwang mich, meine letzte Karte auszuspielen. „Also, wenn es eine Frage des Geldes ist…“
Er verschränkte die Arme und sah mich streng an. „Ich fürchte, Sie schätzen die Situation falsch ein, Sir. Ich genieße – und ich möchte sagen: mit Recht – das volle Vertrauen von Mr. Trampera. Keine finanziellen Angebote werden mich dazu verleiten, es zu untergraben.“
Er zeigte die Straße hinab. „Und nun verschwinden Sie, ehe ich mich gezwungen sehe, Sie anderweitig von diesem Territorium zu entfernen.“
Mein Herz raste vor Aufregung. Einen Moment lang starrte ich Hopkins an und hoffte auf eine rettende Idee. Aber ich musste einsehen, dass dieser Weg eine Sackgasse war. Wir würden eine andere Lösung finden müssen. Wortlos nickte ich zum Abschied, drehte ich mich um und kehrte zum Auto zurück.
„Und?“, fragte Miray, als ich einstieg.
Frustriert schlug ich die Hände aufs Lenkrad. „Da war nur ein Hausverwalter namens Hopkins, und an dem beißt man sich die Zähne aus. Eher werden wir Amanda überzeugen, die Party zu vergessen und an dem Abend eine Gameshow in der Glotze zu schauen.“
Miray tippte sich nachdenklich auf ihre Nasenspitze. „Wir kommen einfach keinen Schritt weiter“, seufzte sie. „Verdammt, dieser beschissene Kater! Wenn ich bloß klar denken könnte! Ich brauche dringend einen Kaffee.“
Sie rief einer Passantin zu, die gerade an unserem Auto vorbeiging. Die Frau war vielleicht ein wenig jünger als wir. Schwarze Locken fielen ihr ins Gesicht, und die braune Haut unter der modischen Nerd-Brille schimmerte im Sonnenlicht. Sie trug ein T-Shirt, auf dem eine Büroklammer mit zwei Augen und der Text „Need Help?“ aufgedruckt war. Eine schwarze Sling Bag hing lässig über ihrer Schulter.
Sie blieb stehen und sah uns an, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie gemeint war. Dann kam sie zu Miray an die Tür.
„Kann ich helfen?“, fragte sie höflich.
Miray nickte. „Kennst du ein Café hier in der Nähe?“
Sie dachte kurz nach. „An der Zuma Beach ist sicher eins. Ich bin sowieso gerade auf dem Weg zum Strand. Nehmt ihr mich mit?“
Ich nickte. „Na klar, hüpf rein!“
Sie nahm auf der Rückbank Platz, während ich im Navi die Route zum Strand suchte. Dann fuhren wir los.
„Ich heiße Felisha!“ Sie lehnte sich nach vorne und legte ihre Arme auf unsere Rückenlehnen. „Aber meine Freunde nennen mich Lish.“
„Ich bin Dian“, stellte ich mich vor. „Und das ist meine Schwester Miray.“
„Hmm…“, brummte Lish leise. „Wie Geschwister seht ihr aber nicht aus.“
Miray deutete auf Lishs Handgelenk. „Ein interessantes Tattoo hast du da. Drei Striche. Hat das eine Bedeutung?“
Ein Schauer lief mir über den Rücken. Drei Striche! War das nur Zufall, oder war sie tatsächlich die dritte Traumreisende?
Lish hielt ihren Arm weiter nach vorne und drehte ihn hin und her. „Ach, das? Das ist nur ein Symbol von einem Club. Nichts Besonderes.“
Miray verschränkte die Arme. „Ein Club, sagst du?“
Ihre Stimme war jetzt kühler, prüfender. Dann hob sie ihre linke Hand und zeigte ihr Tattoo.
„Kann es sein, dass wir zufällig im gleichen Club sind? Einem Club von Tagträumern?“
Lish saß regungslos da. Einen Moment lang sagte sie nichts.
Dann wanderte ihr Blick zu mir. „Und du?“
Ich hielt ihr meine linke Hand hin. „Reicht dir das als Clubausweis?“
Lish nickte und ließ sich mit einem Seufzen in den Sitz zurückfallen.
„Was für ein Glück!“, rief sie, und ihre Erleichterung war deutlich zu spüren. „Ich ahnte schon, dass ich diesmal nicht allein bin, als ich die drei Striche sah. Ich hatte nur keine Ahnung, wie ich euch in dieser riesigen Stadt finden sollte.“
„Tja“, sagte Miray und rückte sich die Sonnenbrille zurecht, „wenigstens dieses Problem wäre damit gelöst. Willkommen im Team, Lish!“
Wir erreichten den langgezogenen Strand von Zuma Beach und parkten vor einem kleinen Café mit Meerblick. Die Sonne und die salzige Seeluft hatten der roten Fassade zugesetzt und sie stark verwittern lassen.
Auch drinnen hatte das Café bessere Zeiten gesehen. An den verschmierten Fenstern standen ein paar abgenutzte Tische und Bänke, gegenüber befand sich ein langer Tresen. Dahinter stand ein älterer Mann, der eine Schürze trug und Gläser abwusch. Der Raum roch nach altem Linoleum und ranzigem Kaffee. Ein Radio spielte leise Countrymusik im Duett mit einem Spielautomaten, der eine elektronische Melodie vor sich hin dudelte.
„Hat einer von euch Geld mit?“, flüsterte Miray leise. „Ich jedenfalls nicht.“
Ich schüttelte meinen Kopf. „Ich fand nur die Schlüssel. Mama hält uns wohl etwas knapp.“
„Kein Problem“, strahlte Lish, „ich lade euch ein!“
Wir setzten uns an einen Tisch weiter hinten, ich neben Miray und Lish uns gegenüber. Vor uns lag eine Speisekarte, die schon ganz verknickt war und sich speckig anfühlte.
Nach einigen Minuten schlurfte der Cafébesitzer zu uns herüber, um unsere Bestellung aufzunehmen. Sein mürrischer Blick und die Art, wie er den Stift hinter seinem Ohr hervorzog, ließen keinen Zweifel daran, dass er lieber ganz woanders wäre. Auf seiner Namensplakette stand „Alfred“.
„Eine extragroße Tasse Kaffee“, orderte Miray, „schwarz, ohne Zucker, und bitte möglichst stark.“
Alfred knurrte: „Wenn ich mir dich so anschaue, sollte ich dir besser gleich einen ganzen Eimer bringen!“
Dann war ich an der Reihe.
„Einen Eistee bitte, ich habe riesigen Durst. Und ein paar Bagels.“
„Bagels, na klar“, brummte er und warf einen missmutigen Blick zu einer leeren Vitrine an der Theke. „Ich habe ja sonst nichts zu tun.“
Er sah Lish an. „Und die Dame?“
„Einen Smoothie mit Drachenfrucht und Macadamia für mich“, sagte sie.
Alfred schnaubte abfällig. „Sorry, habe ich eigentlich immer da, aber ausgerechnet heute ist mir diese Drachenfrucht ausgegangen. Wie wäre es mit einem Iced Coffee?“
Lish nickte, als ob sie so eine Antwort erwartet hatte. „Dann eben einen Iced Coffee. Mit Hafermilch und einem Schuss Pandansirup.“
„Wir haben nur Kaffee. Mit Eis. Und Kuhmilch. Aber vielleicht finde ich noch ein goldenes Löffelchen zum Umrühren.“
Lish sah ihn fassungslos an. „Gut“, sagte sie genervt, „aber bitte wenigstens mit frischen Eiswürfeln!“
Alfred seufzte und verzog sich wieder hinter seinen Tresen.
„Danke für die Einladung, Lish“, sagte Miray. „Zum Glück hast du Geld dabei.“
Lish griff in ihre Tasche und legte vier Vierteldollarmünzen auf den Tisch. „Das wird reichen, denke ich.“
Miray sah sie völlig entgeistert an, als würde sie auf eine Pointe warten, die nicht kam. „Das hier sind nicht die 1930er, Lish“, sagte sie schließlich. „Für einen Dollar wird er uns nicht mal einen Kamillentee servieren.“
„Das weiß ich doch! Deshalb werde ich das Geld vermehren gehen.“
Lish deutete verschmitzt auf den Spielautomaten an der Wand. Der Apparat blinkte und leuchtete wie ein Kirmeskarussell, und das Wort Jackpot prangte in riesigen, roten Lettern darauf. „Nur Dekoration“, stand verschämt auf einem verschmutzen Schildchen daneben.
Ihre Augen funkelten selbstbewusst. „Eine sehr funktionstüchtige Dekoration, meint ihr nicht?“
„Lass es“, mahnte Miray, „das Teil hat nur einen Zweck: Dir das Geld aus der Tasche zu ziehen.“
Lish prustete laut. „Ein Spin Empire WinMaster 5000? Das ist praktisch ein Geldautomat!“
Laut ließ sie die Münzen in ihrer Hand klimpern. Dann rief sie zur Theke: „Alfred, ist es okay, wenn ich mir deine Dekoration mal ein wenig näher anschaue?“
Alfred zuckte gleichgültig mit seinen Schultern. „Ist ein freies Land“, antwortete er und versuchte, ein schelmisches Grinsen zu verbergen. „Aber Geld zurück gibt’s nicht!“
Lish zwinkerte uns zu, stand auf und ging zum Automaten.
„Die geht mir jetzt schon auf die Nerven“, brummte Miray leise.
„Also, ich finde sie nett“, entgegnete ich.
Miray schnaubte kurz. „Mach dir lieber Gedanken, wie wir hier nachher herauskommen werden, ohne zu bezahlen!“
Alfred kam und stellte uns die Getränke hin. „Sagt eurer Freundin, das Eis habe ich extra für sie aus der Antarktis einfliegen lassen. Ich gehe dann mal die Bagels machen.“
Kaum stand er wieder hinter dem Tresen, ertönte eine Melodie vom Spielautomat. Der Jackpot-Text blinkte hektisch. Kurz darauf prasselten Münzen heraus, die Lish eilig in ihre Taschen stopfte.
„Na, wer hätte das gedacht?“, bemerkte ich mit einem breiten Grinsen. „Sie hat tatsächlich abgeräumt. Das dürfte locker für unsere Kaffeerunde reichen!“
Miray nickte, nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse und verzog sofort angeekelt das Gesicht. Sie starrte in die braune Brühe, als hätte sie gerade einen Blick in die Untiefen des schlechten Kaffeegeschmacks geworfen. Mit einem Seufzer stellte sie die Tasse zurück auf den Tisch und sah gedankenverloren aus dem Fenster.
„Wie kriegen wir bloß Amanda auf die Gästeliste?“, fragte ich sie.
Sie zuckte mit den Schultern. „Dieses Abenteuer ist verrückt. Als wir von Amanda losfuhren, dachte ich noch, es wäre am schwersten, die dritte Person zu finden. Doch sie fand uns. Stattdessen hängen wir an dem Teil der Aufgabe fest, von dem ich dachte, dass ein kurzes Gespräch reichen wird.“
Wieder ertönte die schrille Melodie, und ein weiterer Schwall Münzen ergoss sich aus dem Spielautomaten. Alfreds Gesicht lief vor Zorn rot an. Er schleuderte sein Küchenmesser auf den Tresen und stürmte auf Lish zu. Grob packte er ihren Arm und zerrte sie von der Maschine weg.
„Das reicht!“, brüllte er. „Zwei Jackpots hintereinander? Wer bist du? Die Göttin Fortuna auf einem Roadtrip?“
Lish schrie vor Schmerz und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.
Miray reagierte sofort. „He!“, rief sie, stand auf und stürmte zu ihm. „Du hast genau drei Sekunden, um sie loszulassen. Glaub mir, du möchtest nicht herausfinden, was danach passiert.“
Verblüfft sah er Miray an und musterte sie von oben bis unten. Von ihr schien keine wirkliche Bedrohung auszugehen, und doch stand sie entschlossen vor ihm und rührte sich keinen Millimeter.
Schließlich entschied er sich, es nicht darauf ankommen zu lassen. Er ließ Lish los. Sie wich zurück und rieb sich die schmerzende Stelle.
„Da ist doch etwas faul!“, beklagte er sich lautstark. „Der Apparat lief bis eben noch ganz normal, aber kaum sitzt eure Freundin dran, spuckt er plötzlich Münzen wie ein Geldbrunnen!“
„Ach, einen Automaten ohne Lizenz betreiben ist okay, aber sobald jemand gewinnt, stimmt was nicht?“, konterte Miray. „Kann es sein, dass du ein schlechter Verlierer bist?“
Er rang aufgeregt nach Luft. „Ich, ein schlechter Verlierer? Das Teil haut die Kohle schneller raus als meine Frau am Black Friday. Soll ich dabei etwa tatenlos zusehen?“
Er sah Miray nervös an, bevor er resignierte und seine Schultern senkte. „Okay, lassen wir es gut sein. Aber du musst mir versprechen, dass sie hier nichts mehr anrührt! Sonst zieht sie als nächstes Goldbarren aus dem Getränkeautomaten.“
„Einverstanden!“, sagte Miray.
Schweigend kehrten sie an den Tisch zurück.
„Danke“, flüsterte Lish verlegen. „Da habe ich mich wohl ein wenig hinreißen lassen.“
Miray winkte ab. „Ich habe es nicht für dich getan“, knurrte sie. „Vergiss nicht, dass wir ohne dich nicht aufwachen können.“
Lish nippte an ihrem Eiskaffee, dann sah sie uns an. „Apropos, was ist eigentlich unsere Mission? Ich wachte in Malibu auf einer Bank auf, mit einem Rucksack mit Badesachen drin. Daraus schloss ich, dass ich zum Strand muss. Aber was nun?“
Ihr Blick sprang zwischen Miray und mir hin und her.
„Wir wohnen bei unserer Mama in Beverly Hills“, begann ich. „Sie heißt Amanda Brown und ist mit dem Schauspieler Johnny Trampera befreundet. Er ist der Eigentümer jener Luxusvilla, vor der wir dich trafen. Am Sonntag steigt da eine riesige Einweihungsparty.“
„Alle von Rang und Namen sind eingeladen“, führte Miray fort. „Nur Amanda nicht! Sie kocht vor Wut.“
„Ich verstehe“, knurrte Lish nachdenklich. Ihr Gesicht war plötzlich ernst und aufmerksam. „Also müssen wir jetzt schauen, dass sie auf die Gästeliste kommt. Habt ihr Trampera schon gefragt?“
Ich nickte langsam. „Das haben wir versucht. Aber Trampera ist nicht da, und sein Majordomus Hopkins ist loyaler als die Schweizergarde. Er hortet den Ausdruck seiner Liste wie eine heilige Schrift.“
Alfred kam an unseren Tisch und servierte uns einen Teller lieblos zubereiteter Bagels. „Der Beluga-Kaviar war leider alle, sorry“, knurrte er und sah Lish missmutig an. Dann verzog er sich wieder hinter seinen Tresen, wo er mit einem schmierigen Lappen weiter Gläser putzte.
Hungrig biss ich in einen Bagel mit Ei und Tomaten. Er schmeckte besser, als er aussah.
Lish bediente sich ebenfalls. „Eigentlich…“, nuschelte sie mit vollem Mund. Sie schluckte den Bissen herunter und begann noch einmal. „Eigentlich ist es ganz einfach. Ich brauche nur Zugang zu Tramperas PC. Dann kann ich Amanda auf die Liste setzen.“
Miray sah sie entgeistert an. „Und wie? Wir spazieren in seine Villa, schalten den Computer an und ändern die Datei?“
„Ja, etwa so dachte ich es mir.“
„Was für eine bescheuerte Idee!“
„Hast du eine bessere?“
Gespannt beobachtete ich die beiden Frauen. Miray holte tief Luft, öffnete ihren Mund, doch sie sagte nichts. Einen Moment später nickte sie frustriert. „Ich fürchte, wir haben tatsächlich keine andere Wahl!“
Lish ballte ihre Fäuste und genoss sichtlich ihren Triumph.
„Also gut“, sagte Miray, „dann bringen wir es hinter uns.“
Ich winkte Alfred an unseren Tisch, während Lish eine Handvoll Vierteldollarmünzen aus ihrer Jackentasche zog und begann, sie in aller Ruhe zu zählen.
Schließlich schob sie ihm einen Stapel hin, grinste frech und sagte: „Das Trinkgeld steckt im Spielautomaten, sorry. Ich durfte ja nicht mehr dran.“
Mit missmutigem Gesicht strich er das Geld ein, knurrte noch ein paar unverständliche Worte und verschwand in der Küche.
Miray sah ihm hinterher. „Hier werden wir wohl nicht mehr einkehren dürfen“, sagte sie und schwenkte ihre Tasse. „Aber einen weiteren Sud aus Schuhsohlen und Verbitterung hätte mein Magen sowieso nicht überlebt.“
Wir verließen das Café und machten uns auf den Weg, um unseren Plan in die Tat umzusetzen. Während ich den Firebird durch die Straßen lenkte, kreisten meine Gedanken um das, was uns bevorstand. Ich war noch nie zuvor irgendwo eingebrochen, geschweige denn in eine Luxusvilla. Sicher gab es verstärkte Türen. Oder einen furchtbar bissigen Dobermann.
Ich blickte in den Rückspiegel und warf einen kurzen Blick auf Lish. Würde sie es wirklich schaffen, dort hineinzukommen? Immerhin hatte sie eben im Café nicht zu viel versprochen, als sie uns mit nur einem Dollar in der Tasche zu Kaffee und Bagels einlud.
Oder hatte sie einfach nur Glück gehabt?
Ich wurde neugierig.
„Sag mal, Lish, das mit dem Spielautomaten… Ich bin mir sicher, du hast da ein wenig nachgeholfen, aber wie hast du das gemacht?“
Lish nickte lässig. „Der WinMaster 5000 hat einen legendären Konstruktionsfehler. Ein kleiner Magnet in der Hand, zur richtigen Zeit an die richtige Stelle gehalten, und schon wird er spendabel. Das Teil ist eine Einladung für jeden Hacker! Kaum zu glauben, dass der Besitzer ihn nicht längst auf den Schrott geworfen hat.“
„Vielleicht hat er ihn ja von dort günstig bekommen.“ Ich musste kichern. Der zwielichtige Cafébesitzer war an die Falsche geraten.
Als wir die Villa erreichten und in gebührendem Abstand vor ihr anhielten, tauchte die Nachmittagssonne sie bereits in ein goldenes Licht. Der Prunkbau hatte selbst auf den zweiten Blick nichts von seiner Imposanz verloren.
„Einer von uns muss Hopkins ablenken“, schlug ich vor. „Aber wenn ich da noch einmal auftauche, wird er wahrscheinlich handgreiflich.“
Lish zuckte mit den Schultern. „Ich muss die Tür knacken und die Liste ändern.“
Miray verdrehte die Augen. „Na großartig! Gut, dann werde ich den Wachhund ablenken. Aber beeilt euch, ich weiß nicht, wie lange ich das schaffe!“
Wir stiegen aus. Während Miray langsam zum Tor schlenderte, machten Lish und ich uns auf die Suche nach einem Nebeneingang.
„Wie willst du die Tür öffnen?“, fragte ich.
„Ich habe in jedem Traum meine Spezialausrüstung mit“, antwortete sie und hielt einen Bund mehrerer kleiner Metallbügel hoch. „In den richtigen Händen ist das so gut wie ein richtiger Schlüssel.“
Ich sah sie überrascht an. „Du hast Lockpicking-Werkzeug dabei? Irgendwie finde ich das faszinierend und beunruhigend zugleich.“
Am Ende der Grundstücksmauer kreuzte eine kleine Nebenstraße den Weg. Wir folgten ihr und fanden eine unscheinbare Seitentür zur Villa. Sie hielt eine Überraschung für uns bereit. Eine, die mich resignieren ließ.
„Du kannst dein Werkzeug wieder einpacken, Lish. Diese Tür hat kein Schloss.“
Tatsächlich hatte sie nur einen schlichten Türknauf. Daneben glänzte eine kleine Box mit zehn Tasten im Sonnenlicht.
„Ein Zahlenschloss“, stellte Lish fest und quiekste leise. „Perfekt! Das macht die Sache noch einfacher.“
Ich war mir nicht sicher, ob sie das ironisch meinte oder ob sie einfach übergeschnappt war. Sie klopfte gegen die Box. Der dumpfe Klang verriet mir sofort, dass es sich um soliden Stahl handelte. Dann beugte sie sich näher und inspizierte die Apparatur.
„Zwei, drei, sechs, sieben, acht…“, murmelte sie, „damit hätten wir schon mal die Ziffern.“
„Woher weißt du das?“, fragte ich erstaunt.
„Schau her! Das Teil ist nagelneu, aber die Tasten, die ständig gedrückt werden, sind leicht verschmutzt.“
Sie hatte recht. Das Gerät glänzte, als wäre es erst gestern aus der Verpackung gekommen. Aber fünf Tasten wiesen feine Gebrauchsspuren auf. Genau jene, die Lish eben genannt hatte.
Ich nickte. „Aber was hilft uns das? Es sind sicher immer noch tausende Kombinationsmöglichkeiten.“
„120“, korrigierte Lish mich. „Vorausgesetzt, keine Ziffer kommt doppelt vor, aber das glaube ich nicht.“
„Gut, meinetwegen nur 120. Aber in welcher Reihenfolge?“
Lishs Grinsen wurde immer breiter.
„Meistens liegt die Antwort nahe, weil sich niemand komplizierte Zahlen merken will. Geburtstage, Hochzeitstage, Telefonnummern… So was halt.“
Sie ließ ihren Blick schweifen. Plötzlich fixierten ihre Augen etwas.
„Oh nein! Das wäre ja schon beleidigend einfach!“
Sie deutete auf die Hausnummer. Es war die 32768.
Eilig tippte sie den Code ein. Das Gerät brummte leise, dann leuchtete ein rotes Lämpchen auf.
„So einfach ist es dann wohl doch nicht“, murmelte sie.
Nervös sah ich mich um. Uns lief die Zeit davon.
„Wir können hier nicht ewig herumprobieren! Lass uns umkehren und einen anderen Weg hinein suchen.“
Lish riss die Augen auf. „Umkehren! Das könnte…“
Sie tippte erneut. Ein grünes Licht ging an und das Schloss klackte zufrieden. Die Tür war offen.
Ein stolzes Grinsen huschte über ihr Gesicht. „Die Hausnummer rückwärts! Na, wenigstens haben sie sich ein kleines bisschen Mühe gegeben.“
Wir gingen hinein und betraten eine Küche, die so groß war wie mein ganzes Wohnzimmer. Ein gewaltiger Tresen stand in der Mitte, darüber hing eine Esse von der Decke. An den Wänden standen weitere Tische, Schränke und eine große, italienische Aufschnittmaschine.
Mein Herz pochte vor Aufregung und ich hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Bin ich gerade tatsächlich in eine Luxusvilla eingebrochen?
Lish hielt sich nicht lange auf. Sie eilte zur gegenüberliegenden Tür, und ich folgte ihr.
Wir erreichten ein Wohnzimmer. Durch seine hohe, gewölbte Decke wirkte es mehr wie eine Kathedrale. Ein riesiges Panoramafenster ließ warmes Sonnenlicht in breiten Bahnen auf einen polierten Marmorboden fallen. Die Mitte des Raumes dominierte eine gewaltige Couchlandschaft aus strahlend weißem Leder, arrangiert um einen Glastisch, der auf filigranen Glasfüßen beinahe zu schweben schien.
Direkt neben der Küchentür führte eine Treppe in die obere Etage. Betonstufen ragten aus der Wand, als wären sie organisch aus ihr gewachsen. Ein Handlauf aus tiefschwarzem Ebenholz ruhte auf Scheiben aus Sicherheitsglas.
„Hier ist nichts weiter als verschwendeter Raum“, flüsterte Lish gänzlich unbeeindruckt. „Das Arbeitszimmer ist sicher oben.“
Wir schlichen die Treppe hinauf und betraten einen Korridor. Die Wände waren aus nacktem Beton, durch Spots angestrahlt wie in einer Kunstgalerie. Sie bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu dem Parkett, das wie der Handlauf aus Ebenholz gefertigt war, und einem quietschbunten Perserläufer, der sich surreal darüber legte. Mitten im Raum thronte eine lebensgroße Marmorstatue, wahrscheinlich Trampera selbst.
Die erste Tür zur linken Seite stand offen, dahinter sahen wir einen Schreibtisch mit einem Bildschirm.
„Bingo“, jubelte Lish. Wenige Augenblicke später saß sie bereits am Computer und knackte kurz mit ihren Fingern.
Ich positionierte mich an einem Fenster, von dem aus ich den großen Garten und die Zufahrt gut überblicken konnte. Das Tor war geöffnet. Miray stand dort, hielt eine riesige Landkarte in ihren Händen und sprach angeregt mit Hopkins. Sie deutete energisch in eine Himmelsrichtung. Er stand kerzengerade neben ihr, sichtlich bemüht, seine stoische Haltung zu bewahren. Doch seine Hand zuckte immer wieder zur Karte und verriet, dass ihn irgendetwas in den Wahnsinn trieb.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er nahm Miray die Karte ab, drehte sie um, reichte sie zurück und deutete wortlos in eine völlig andere Richtung. Miray wedelte mit ihrem Finger. Hopkins warf seinen Kopf in den Nacken und vergrub seine Fäuste in sein Haar.
„Ach, verdammt!“
Lish schlug mit ihrer flachen Hand auf den Schreibtisch.
„Was ist?“, fragte ich aufgeregt. „Kommst du nicht in das System?“
Sie stöhnte. „Im Gegenteil, der Bildschirm war nicht gesperrt! Dann brauche ich meine Hacker-Tools gar nicht.“
Ohne Eile nahm sie die Maus und klickte sich durch die Menüs. Eine Tabelle erschien auf dem Bildschirm.
„Wie heißt eure Mutter?“
„Amanda Brown. Und sie ist nicht wirklich unsere Mutter.“
„Das dachte ich mir schon!“ Sie zog die Tastatur zu sich und begann zu tippen. „Seid ihr beide zusammen?“
„Es ist kompliziert“, seufzte ich leise und wandte mich wieder dem Fenster zu. Das Tor war inzwischen geschlossen. Miray stand dahinter, allein, und warf nervöse Blicke zum Haus. Hopkins dagegen war nicht mehr zu sehen.
Mein Magen zog sich zusammen. „Hopkins kommt! Los, Lish, wir müssen abhauen!“
„Einen Moment noch!“, sagte sie angespannt. Dann sprang der Drucker an und spuckte ein paar Seiten Papier aus.
„Lish!“, rief ich. Mein Puls überschlug sich.
Sie griff nach dem Stapel, der im Drucker lag. „Okay, los!“
Wir rannten die Treppe hinunter und hechteten in die Küche. Durch das Fenster sah ich Hopkins, er war fast am Haus. Ich riss die Tür in die Freiheit auf, als Lish abrupt stehen blieb und mich am Arm zog.
Ich zuckte zusammen. „Was?“
„Wir können noch nicht weg!“, rief sie. „Wir müssen noch etwas erledigen!“
Ich starrte sie an. Mein Mund klappte auf, aber kein Wort kam heraus. Stattdessen ruderten meine Hände wild in der Luft.
„Nicht dein Ernst, Lish! Hopkins steht gleich in der Küche! Wir müssen hier raus!“
Sie hielt den Ausdruck hoch. „Aber die Liste…“
Ich schlug die Hände über meinen Kopf zusammen. Dann griff ich ihren Arm, zog sie durch die Tür und schubste sie vor mir her.
Draußen saß Miray bereits im Auto und wartete mit laufendem Motor auf uns. Kaum saßen wir, gab sie Vollgas und wir fuhren mit quietschenden Reifen davon.
„Das war knapp!“, rief Miray aufgeregt. „Ich konnte ihn nicht mehr länger aufhalten. Er schien zu ahnen, dass etwas nicht stimmt. Wart ihr wenigstens erfolgreich?“
Lish nickte und hielt den Ausdruck wie eine Trophäe in der Hand. „Amanda steht jetzt auf der Liste.“
„Perfekt!“, jubelte Miray. „Gute Arbeit!“
„Ihr freut euch zu früh“, knurrte Lish. „Es gibt noch ein Problem. Miray, fahr mal ran, dann erkläre ich es euch.“
Miray fuhr auf einen kleinen Parkplatz und stellte den Motor ab. Dann drehten wir uns zu Lish um.
Sie seufzte. „Hopkins weiß nichts von der neuen Liste, also wird er weiter seinen alten Ausdruck nehmen, auf dem Amanda fehlt. Wir müssen zurück und die Listen austauschen!“
„Du hast recht“, knurrte Miray und verzog ihren Mund. „Aber wie machen wir das? Ich kann Hopkins nicht schon wieder ablenken. Er kennt mich jetzt.“
„Aber du kannst Hopkins anrufen. Während er mit dir telefoniert, brechen Dian und ich noch einmal ein und tauschen die Liste aus.“
Miray nickte abfällig. „Na klar! Und wo bekommen wir seine Telefonnummer her?“
Lish grinste breit.
„Du hast sie, nicht wahr?“, staunte ich.
„Sie stand auf dem Telefon neben dem Computer. Zahlen bleiben in meinem Kopf kleben wie Fliegen an einer Fliegenfalle.“
„Also los, zurück zur Villa!“ Ich seufzte frustriert. „Wenigstens kennen wir jetzt den Türcode.“
„Nicht so schnell!“, unterbrach Miray.
Sie tippte sich auf ihre Nasenspitze, bevor sie zu grinsen begann. Erst ein wenig, dann immer breiter. Sie hatte eine Idee!
„Hopkins weigert sich, jemanden auf die Liste zu setzen. Aber jemanden runterzunehmen, das würde er sicher tun, nicht wahr? Und ich weiß auch schon, wen!“
Sie nahm den Ausdruck, sah ihn durch und fand auf der ersten Seite, was sie suchte. Sie hielt Lish das Blatt hin und tippte auf einen Namen.
„Amandas Freundin Celeste hat es ihr ganz schön unter die Nase gerieben, dass sie nicht eingeladen war. Zeit, es ihr heimzuzahlen.“
„Oooh…“, jubelte Lish und klatschte in die Hände, „lass mich das machen, bitte!“
Sie zückte ihr Handy, tippte eine Nummer ein und wir hörten das Rufzeichen.
„Residenz von Johnny Trampera, Hopkins am Apparat“, meldete sich der Majordomus.
„Hopkins, Darling?“, antwortete Lish mit einer überzogenen High-Society-Stimme. „Hier ist Celeste Ashmore! Ich befürchte, ich werde nicht zu der Einweihungsparty kommen können. Gestern habe ich mir beim Aurapendeln in meiner Himalayasalzgrotte ganz schlimm mein Chi verrenkt!“
„Das ist ja furchtbar, Mrs. Ashmore!“, antwortete Hopkins trocken.
„Nicht wahr? Mein Reiki-Therapeut sagt, die Heilung wird Monate dauern.“
Lish zwinkerte uns zu, während wir auf Hopkins Antwort warteten.
„Wie überaus bedauerlich! Vielen Dank für Ihre Mitteilung. Ich werde die Gästeliste entsprechend anpassen.“
„Danke, Hopkins! Vielleicht hat Johnny ja später mal Zeit für eine kleine… ähem… Privatparty mit mir.“
Hopkins Stimme blieb ungerührt. „Ich werde Mr. Trampera Ihre Nachricht übermitteln. Eine baldige Genesung, Mrs. Ashmore!“
Dann legte er auf.
Lish sah uns zufrieden an. „Das war schlau, Miray! Hopkins wird sich jetzt selbst eine neue Liste drucken, ohne Celeste Ashmore…“
„…aber mit Amanda Brown!“, beendete Miray den Satz.
Dann sah sie mich an. „Möchtest du dein Baby nach Hause fahren, Dian? Diese Bestie hat für meinen Geschmack zu viele Pferde unter der Haube.“
Da brauchte sie mich nicht zweimal zu bitten. Wir tauschten die Plätze. Liebevoll streichelte ich das Lenkrad, bevor ich den Motor startete und den Firebird zurück auf die Straße brachte.
Wir verließen den Pacific Coast Highway und fuhren Richtung Beverly Hills. Lish hatte sich eine Sonnenbrille aufgesetzt und genoss den frischen Fahrtwind in ihrem Gesicht, während Miray gelangweilt durch die Gästeliste blätterte.
Plötzlich hielt sie inne.
„Oh!“, sagte sie – und dann lachte sie los, als hätte sie gerade den Witz aller Witze gelesen.
„Was ist?“, fragte ich und warf einen besorgten Blick zu ihr. Sie grunzte, versuchte zu sprechen, aber ein neuer Lachanfall brach ihre Worte. Tränen liefen über ihr Gesicht.
Irgendwann keuchte sie, atmete tief durch und fand ihre Stimme wieder. „Ich habe eine Überraschung für Amanda. Aber mehr verrate ich nicht.“
Wir erreichten Amandas Villa und parkten den Firebird im Carport. Kaum hatten wir die Haustür geöffnet, kam die Dame des Hauses bereits auf uns zugelaufen. Sie warf einen kurzen Blick auf Lish.
„Ich hoffe, ihr habt nicht nur eine neue Freundin, sondern auch gute Neuigkeiten mitgebracht!“, knurrte sie.
Ich nickte stolz. „Wir haben es geschafft, Mama! Du stehst jetzt offiziell auf Tramperas Gästeliste.“
„Tatsächlich?“ Sie begann zu strahlen, als hätte Trampera ihr persönlich den roten Teppich ausgerollt. „Das ist ja fantastisch!“
Miray räusperte sich. „Wir können sogar zaubern! Schau doch mal deine Post der letzten Tage durch. Wenn die Einladung nicht dabei ist, räume ich Dians Zimmer auf. Im Dienstmädchenkostüm und mit gefesselten Händen.“
Amanda seufzte theatralisch. „Dann zieh dir schon mal das Kostüm an, mein Gürkchen. Ich habe sicher hundertmal nachgesehen.“
Sie warf uns einen übertrieben leidenden Blick zu und rauschte die Treppe hinauf.
„Gürkchen?“, wiederholte ich leise und grinste vorsichtig. „Wie mag dieser Kosename entstanden sein?“
Miray zuckte mit ihren Schultern. „Keine Ahnung. Aber nenn mich nur einmal so, Dian, und ich beende deine Familienplanung.“
Ich wollte lieber nicht herausfinden, ob sie das ernst meinte.
Ein spitzer Schrei hallte durch das Haus. Ein Schrei irgendwo zwischen Triumph und ungläubigem Staunen. Dann kam Amanda mit eiligen Schritten zu uns zurück. Ihr Blick glänzte vor Aufregung, während sie in ihrer Hand einen Umschlag fest umklammert hielt.
„Ich weiß nicht, wie ihr das gemacht habt“, stammelte sie, „aber das ist tatsächlich die Einladung!“
Amanda machte einen Schritt zur Küche, blieb unvermittelt stehen, sah ins Wohnzimmer, eilte plötzlich zur Garderobe und riss ihre Handtasche an sich.
„Ich muss los! Ich brauche ein neues Cocktailkleid! Und Schuhe! Und eine passende Clutch!“
Schon rauschte sie ohne ein Wort des Abschieds durch die Haustür, schlug sie hinter sich zu und ließ uns verdattert zurück.
„Wie hast du bloß die Einladung in ihr Zimmer gezaubert, Miray?“, fragte ich.
„Oh, das war ganz einfach!“, antwortete sie grinsend und deutete zum Kamin. „Weißt du noch, der Filmpreis?“
Ich sah zu der goldenen Figur auf dem Kaminsims. „Du meinst den, den Amanda für ‚Scarlet Summers‘ gewonnen hat?“
„Richtig. Allerdings ist ‚Scarlet Summers‘ nicht der Name des Films.“
Sie nahm die Gästeliste und deutete auf einen Eintrag auf der dritten Seite.
„Das ist Amandas Künstlername! Er stand schon längst auf der Liste, also musste sie auch eine Einladung bekommen haben. Wahrscheinlich übersah sie den Brief einfach nur zwischen ihrer Fanpost.“
Ich starrte auf den Ausdruck, las, was eigentlich nicht dort stehen durfte.
„Also war unsere ganze Mission…“
Lish prustete los. „…so sinnlos wie der Versuch, sich die letzten zehn Stellen von Pi zu merken. Du hast es erfasst, Dian! Habt ihr immer so lustige Träume?“
Miray hielt ihr Handgelenk hoch. „Immerhin haben wir die Aufgabe gelöst“, sagte sie stolz und deutete auf den grünen Kreis, der die drei Striche ihres Tattoos umrahmte. „Lasst uns verschwinden, bevor Mama zurückkommt und noch mehr unsinnige Aufgaben für uns hat.“
Lish schüttelte ihren Kopf. „Ich möchte vorher noch in diesen fantastischen Pool da draußen springen.“
Sie öffnete ihre Sling Bag und zog einen weißen Bikini hervor. Auf dem Oberteil waren das Steuerkreuz und die Aktionstasten eines Joypads abgebildet.
„Es wäre ein Jammer, dieses schöne Stück trocken zu lassen.“
Miray sah mich genervt an, und mir war selbst nicht wohl bei dem Gedanken, den Traum einfach fortzusetzen. Andererseits wollte ich mich für das bestandene Abenteuer belohnen und noch eine Weile zusammen mit Miray und Lish den Luxus am Pool genießen.
„Ich bin da ganz bei Lish“, gestand ich. „Zu Hause erwartet mich nur ein langweiliger Kinofilm und ein Heimweg im Regen.“
Sie seufzte. „Nicht dass der grüne Ring wieder verschwindet, wenn wir länger bleiben als unbedingt nötig.“
„Nein, das passiert nicht. Das habe ich schon ausprobiert“, erklärte Lish. „Wenn die Aufgabe gelöst ist, wacht man einfach wieder zu Hause auf, wenn man in der Traumwelt einschläft.“
Auch wenn es vielleicht leichtsinnig war, vertraute ich Lish. Also gingen wir in die Zimmer, um uns umzuziehen.
Als ich zum Pool zurückkehrte, plantschte Lish bereits im Wasser und versuchte gerade, auf eine Luftmatratze in Form eines Flamingos zu steigen. Miray hatte es sich auf ihrer Sonnenliege gemütlich gemacht und beobachtete das Geschehen.
„Kommst du mit ins Wasser?“, fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf. „Eher würde ich aus einem Flugzeug springen, als in Wasser zu steigen, das tiefer als meine Knöchel ist.“
Überrascht sah ich sie an. „Aber hast du nicht Höhenangst?“
Sie schnippte mit dem Finger. „Exakt, Bruderherz! Und trotzdem ist da noch genug Platz für eine zweite Phobie.“
Ich deutete zum Pool. „Hast du etwas dagegen, wenn ich reingehe?“
„Warum sollte ich?“ Sie machte eine einladende Geste. „Aber wenn du ertrinkst, wird Lish dich retten müssen.“
Kopfüber sprang ich ins Becken und tauchte ein paar Meter. Das Wasser war angenehm kühl und spendete die Erfrischung, nach der ich mich bereits den ganzen Tag sehnte. Danach planschte ich mit Lish und dem aufblasbaren Flamingo, bis Miray mit drei giftgrünen Smoothies aus dem Haus kam und uns zu sich winkte.
Als es dämmerte, zog ich mich auf meine Liege zurück. Ich dachte an das Abenteuer, das wir hinter uns gebracht hatten. An meine Schwester auf Zeit. An unsere neue gemeinsame Freundin. Dann schloss ich für einen Moment die Augen. Nur ganz kurz.
„Dian“, sprach eine Männerstimme. „Dian, der Film ist vorbei! Wach auf!“
Ich war zurück im Kino. Das Saallicht leuchtete und der Abspann des Films lief über die Leinwand. Mein Kumpel stand vor mir und sah mich besorgt an.
„Ich dachte, du liebst Agentenfilme, Dian! Wie es aussieht, hat dieser dich nicht vom Hocker gerissen.“
„Ach, ich war in meinem eigenen Film!“, sagte ich verträumt, streckte meine Arme von mir und reckte mich ausgiebig. „Komm, lass uns noch einen Döner essen gehen. Er geht auf mich! Aber sag mal, hat der Imbiss nicht einen Spielautomaten?“