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Eine staubige Straße in einem kleinen Ort im Wilden Westen. Im Vordergrund steht ein Cowboy mit dem Rücken zum Betrachter. Er ist bereit für ein Duell.
5

Kiona Bluff

Episode:
5
Version:
V1.0
Veröffentlicht am:
Länge:
10.500 Wörter
Lesedauer:
50 Minuten
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Kiona Bluff

„Sir?“

Jemand schüttelte mich an der Schulter.

„Sir, ist alles in Ordnung?“

Ich schreckte hoch und sah mich um. Eben lag ich noch auf der Liegewiese im Freibad, doch nun saß ich in einem sehr bequemen Ledersessel. Dieser befand sich in einer Hotellobby mit luxuriösem Marmorboden und holzvertäfelten Wänden. Mir gegenüber war die Rezeption, daneben befanden sich zwei Check-in-Automaten und drei Aufzüge. Einer hatte eine hellblaue Tür, die in großen, weißen Lettern mit „@137“ beschriftet war.

Ein Page stand neben mir. Er sah mich besorgt an.

Rasch richtete ich mich auf und zog mir mein Hemd zurecht.

„Ja, alles in Ordnung. Ich muss eingeschlafen sein.“

Der Page nickte erleichtert. „Sir, Ihre Begleitung ist eingetroffen.“

Er deutete auf den Eingangsbereich. Draußen war es bereits dunkel. Eine schwarze Limousine stand in der Parkzone. Der Fahrer öffnete die hintere Tür. Eine Frau stieg aus, nickte zum Dank und ging anmutig auf den Eingang des Hotels zu. Ein Portier ließ sie hinein.

Die Frau trug ein tiefblaues, schmal geschnittenes Abendkleid aus mattem Satin, das bis knapp über die Knöchel reichte. Es war ärmellos und hatte einen asymmetrischen Kragen, der sich elegant über ihre rechte Schulter legte. Auf dem Kopf trug sie einen modischen Hut mit breiter, leicht geschwungener Krempe, der tief ins Gesicht gezogen war.

Ich stand auf und ging verunsichert auf sie zu. Als sie mich bemerkte, wechselte sie die Richtung und kam zu mir.

Und plötzlich erkannte ich sie.

„Miray, bist du es?“, fragte ich, als sie vor mir stand.

Sie schob den Hut hoch und lächelte verlegen. „Habe ich mich so verändert?“

„Ich habe dich tatsächlich gar nicht erkannt. Du siehst einfach umwerfend aus!“

Sie nickte kurz. „Du aber auch, Dian! Maßanzug, perfekt getrimmter Bart, die Haare nach hinten gekämmt.“

„Wie es aussieht, haben wir heute etwas Besonderes vor.“

Ich wollte auf mein Handgelenk schauen, aber eine große Armbanduhr verdeckte mein Tattoo.

Miray hielt mir ihres hin.

„Zwei Striche! Lish ist dieses Mal nicht dabei, wie es aussieht“, bemerkte sie grinsend.

Ich deutete darauf. „Da ist auch schon der grüne Kreis! Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?“

„Keine Ahnung. Lassen wir uns einfach überraschen! Immerhin können wir jederzeit verschwinden, wenn es uns nicht gefällt.“

Der Page räusperte sich leise und deutete mit seinem Arm zu den Aufzügen. „Ma’am, Sir, wenn Sie mir folgen möchten?“

Er brachte uns an die blaue Aufzugtür und betätigte den Knopf. Wenige Augenblicke später standen wir beide im Aufzug, welcher sanft, aber spürbar beschleunigte und uns in die 137. Etage brachte.

Ein Maître empfing uns. Er war um die vierzig, schlank, und trug einen anthrazitfarbenen Dreiteiler, auf dessen Brusttasche dezent das Logo des Hauses eingestickt war. Sein Mund lächelte freundlich und einladend, doch in seinen Augen lag Aufmerksamkeit und Autorität. Ich fühlte mich bei ihm sofort gut aufgehoben.

„Mrs. Miray, Mr. Dian, im Namen des @137 darf ich Sie herzlich in der 137. Etage des Burj Al Sahar willkommen heißen.“

Er neigte leicht den Kopf.

„Mr. Nasser übermittelt Ihnen seine besten Grüße. Er bedauert zutiefst, verhindert zu sein und Sie nicht persönlich empfangen zu können, und lässt Ihnen seinen aufrichtigen Dank für den gelungenen Geschäftsabschluss ausrichten. Es ist ihm eine besondere Ehre, Sie als seine Gäste zu wissen. Bitte fühlen Sie sich frei, diesen Abend in seinem Sinne zu genießen. Alles Weitere wurde bereits für Sie arrangiert.“

Mit einer Geste bat er uns, ihm zu folgen.

Er führte uns in ein Restaurant, das edel und zugleich modern wirkte. Große Panoramafenster zogen sich an der gebogenen Außenwand entlang und boten einen breiten Blick auf ein Lichtermeer aus winzigen Straßen und hohen Gebäuden. Die Tische an den Fenstern waren aus dunklem Holz, großzügig und rund. An der gegenüberliegenden Seite zog sich eine geschwungene Bar entlang der Wand. Der dunkle Tresen wurde aufgelockert durch ein bunt leuchtendes Mosaikmuster an seiner Frontseite. Das Licht im Raum war angenehm gedämpft, sodass man den Blick auf die Stadt genießen konnte. Nur die Tische wurden durch Spots hell angeleuchtet.

Quer durch den Raum führte ein kleiner, dekorativer Wasserlauf, der dezent beleuchtet war. Wir überquerten ihn an einer Brücke und gingen auf einen Tisch zu, der unmittelbar in Fensternähe stand.

„Unsere besten Plätze“, kündigte der Maître an. „Sie haben hier eine unbeschreibliche Aussicht auf Dubai.“

Miray zögerte angespannt. Ich konnte ihr ansehen, dass sie dort nicht sitzen wollte. Es war zweifellos der beste Tisch des Restaurants – wenn man nicht an Höhenangst litt.

Ich räusperte mich leise. „Maître, ich denke, eine etwas privatere Ecke würde uns mehr zusagen.“

Er nickte kurz, bog ab und führte uns an einen lauschigen Platz in der Nähe der Bar. Ich warf einen kurzen Blick zu Miray. Ihr erleichtertes Lächeln verriet mir, dass es die bessere Wahl war.

Nachdem wir Platz genommen hatten, erkundigte sich der Maître: „Darf ich vorab wissen, ob wir bei der Menüfolge oder der Weinbegleitung auf besondere Wünsche Rücksicht nehmen dürfen?“

Miray nickte. „Für mich bitte keinen Alkohol. Bei allem anderen lasse ich mich gerne von Ihnen überraschen.“

„Für mich genauso, bitte“, fügte ich hinzu.

„Selbstverständlich“, sagte der Maître, wünschte uns einen genussvollen Abend und ging.

„Danke!“, flüsterte Miray. „Ich hoffe, du hast nicht zu sehr an dem Tisch mit Panoramablick gehangen.“

Ich winkte ab. „Eine Aussicht wie diese könnte ich nachholen. Ein edles Candle-Light-Dinner mit dir nicht.“

Verlegen wechselte sie das Thema.

„Die haben hier sicher Weine, die älter sind als wir. Wäre das nichts für dich gewesen?“

„Klar haben die hier Spitzenweine. Aber ich will diesen Abend mit dir genießen. Möglichst lange, und ohne Filmriss.“

Einen Moment überlegte ich, ob ich fragen sollte. Dann tat ich es.

„Du trinkst keinen Alkohol?“

Miray verzog leicht den Mund.

„Als mein Adoptivvater seinen Job verlor, wurde er zum Trinker. Und wenn er trank, war er unberechenbar. Mal war er ruhig, mal rastete er völlig aus. Meine Mutter hat geschwiegen und gelitten, der Kinder wegen. Und ich habe mir lange die Schuld gegeben. Dachte, er bereut die Adoption, weil ich ihm auf der Tasche lag.“

Nachdenklich starrte sie in das Licht der Kerze auf dem Tisch.

„Ob er heute noch trinkt… Keine Ahnung, ist mir auch egal. Ich gehe dem Zeug jedenfalls aus dem Weg, so gut ich kann. Und ihm auch.“

Sie seufzte laut. Dann sah sie mich an, und sie lächelte, als wurde ein Schalter umgelegt.

„Lass uns von etwas Schönerem reden, Dian! Schau, da kommen schon die Getränke!“

Der Sommelier brachte uns einen eiskalten Aperitif aus grünem Apfel, Sanshō-Pfeffer und Minze. Wir stießen an und probierten einen Schluck. Er erfrischte besser, als jeder Champagner es gekonnt hätte.

Plötzlich kam Bewegung in den Raum. Der Maître führte einen Mann hinein, der keinen Zweifel daran ließ, wie wichtig er sich nahm. Er trug einen makellosen Designeranzug, edle Lackschuhe und am Handgelenk eine Golduhr, die Imposanz statt Eleganz ausstrahlte. Drei Kellner schwirrten um ihn herum, brachten ihn an seinen Platz, berieten ihn, notierten, strichen, änderten. Nichts schien ihm gut genug zu sein.

Miray und ich sahen uns an.

„Was für einen Aufriss sie machen“, flüsterte ich ihr zu. „Was hat er, was wir nicht haben, außer vielleicht einem dicken Konto und einer schwarzen Kreditkarte?“

„Mythos“, behauptete sie und nahm einen Schluck von ihrem Aperitif.

Ich runzelte die Stirn. „Mythos?“

„Er trägt Designerklamotten, eine teure Uhr, tritt autoritär auf. Alle gehen davon aus, dass er reich ist. Aber wer weiß schon, wie es wirklich auf seinem Konto aussieht?“

Ich grinste. „Also der Mythos vom Superreichen, der die nächste Million macht, während er sich nur die Nase putzt.“

Ihr Blick wurde kurz nachdenklich.

„Ich habe so etwas in einer früheren Traumreise selbst erlebt“, sagte sie schließlich.

„Was? Du warst superreich?“

Sie lachte. „Nein. Ich meine einen Mythos, der größer war als der Mann, gegen den ich antreten musste. Aber das ist eine lange Geschichte.“

Aus der Küche kam die Vorspeise, ein Thunfisch-Sashimi mit Granatapfelkernen auf einem Bett aus Kräuteröl.

Ich nahm das Besteck. „Nun, wir haben Zeit. Das musst du mir erzählen!“

Für einen Moment sah sie zur Seite und dachte nach. Sie schmunzelte und nickte leicht, bevor sie mit ihrer Erzählung begann.


Ich befand mich in einer Kutsche, so einem schmucklosen Holzkasten mit sechs Fenstern. Die Bank, auf der ich saß, war durchgesessen und hart wie Stein. Ein starkes Holpern hatte mich geweckt, und ich fragte mich, wie ich es überhaupt geschafft hatte, hier einzuschlafen.

Der Wagen schaukelte, während die Räder über einen steinigen Boden rappelten. Es war brütend heiß, die Luft war staubig, verbraucht und kaum zu atmen. Von außen hörte ich die Stimmen der Kutscher, die sich über irgendetwas unterhielten. Einer lachte.

Wir fuhren durch eine karge Steppenlandschaft. Flecken halb vertrockneter Gräser und Sträucher erstreckten sich bis zu den Bergen am Horizont. Die Sonne stand bereits tief, und trotzdem versengte sie alles, was ihr zu nahe kam.

Ich trug ein beiges Kleid mit einem hohen Kragen, das in einen weiten Rock überging. Die Kleidung fühlte sich schwer und unpraktisch an, und doch schien sie für den Alltag gemacht worden zu sein.

Sonst hatte ich nur eine kleine Tasche bei mir, die nichts weiter enthielt als ein paar Münzen und einen gefalteten Zettel. Ich öffnete ihn und las eine Fahndung. „Wanted“, stand dort in großen Lettern, „Benjamin Walker, auch Bullet Ben genannt, tot oder lebendig.“

Es war damit ziemlich klar, dass ich einen Outlaw fangen musste. Wie ich das anstellen sollte, weniger.

Momentan konnte ich nur abwarten, wo die Kutsche mich hinbrachte. Also lehnte ich mich in eine Ecke und versuchte, noch ein wenig zu dösen.

Nach einer Weile hielten wir an. Einer der Kutscher kam und öffnete die Tür.

„Miss, wir haben Kiona Bluff erreicht.“

Er hielt mir die Hand hin und half mir beim Aussteigen.

Ich sah mich um. Kiona Bluff war kaum mehr als eine staubige Hauptstraße, an der sich auf beiden Seiten schlichte Holzhäuser aneinanderreihten wie Hühner auf der Stange. Es sah aus wie die Kulisse eines Westernstreifens, und ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn John Wayne durchs Bild geritten käme.

Hergebracht hatte mich eine rote Postkutsche, vor der vier Pferde gespannt waren. Einer der Kutscher saß noch auf dem Bock, seine Flinte in der Hand haltend. Der andere, der mir beim Aussteigen half, stand nun am hinteren Gepäckfach, holte ein paar Pakete heraus und übergab sie einem wartenden Mann. Dann stieg er neben seinen Kollegen und schwang die Zügel. Die Kutsche fuhr an und wirbelte eine Staubwolke auf, als sie mich an diesem Ort zurückließ.

Mein erster Weg führte zum Sheriff. Als ich sein Büro betrat, saß er hinter seinem Schreibtisch, die Füße auf die Tischplatte gelegt und den Hut über sein Gesicht gezogen.

„Matt, ich sag’s dir zum letzten Mal“, knurrte er, ohne den Hut zu lüften. „Du pennst gerade bei Clem, weil deine gute Martha dich mit Betty erwischt hat. Was du jetzt brauchst, ist ’n Priester, nicht den Sheriff.“

Ich räusperte mich laut. Der Sheriff zuckte zusammen, nahm seinen Hut ab und sah mich überrascht an. Dann riss er die Beine vom Tisch und setzte sich ordentlich hin.

„Nun, Miss, was verschlägt Sie denn in unser bescheidenes Fleckchen?“

„Ich bin auf der Suche nach Bullet Ben.“

Er schmunzelte kurz. „Ich wusste gar nicht, dass der verheiratet ist.“

„Und ich wusste nicht, dass Sie für die Witze zuständig sind“, hörte ich mich sagen.

Er ließ die Bemerkung einfach an sich abperlen.

„Was hat ’ne feine Dame wie Sie mit ’nem Kerl wie dem zu schaffen?“

Ich öffnete meine Tasche, zog den Steckbrief heraus und hielt ihn dem Sheriff vor die Nase. Sein blödes Grinsen verging ihm augenblicklich.

„Wenn Sie’s wirklich wissen wollen: Ben haust in ’ner Hütte, draußen gleich bei der Wüstenklippe, die unserem Örtchen seinen wundervollen Namen verpasst hat.“

Ich starrte ihn an. Das konnte nicht sein Ernst sein!

„Wenn Sie wissen, wo Ben wohnt, warum gehen Sie nicht hin und nehmen ihn fest?“, fragte ich entrüstet.

Er rieb sich mit dem Zeigefinger die Stirn.

„Hier ist keiner so lebensmüde, dem ans Leder zu wollen, Miss. Wissen Sie, warum man ihn Bullet Ben nennt? Weil noch nie ’ne Kugel von ihm danebenging. Noch nie! Auch nicht besoffen oder bei Nacht. Und schlimmer noch: Der weiß alles, was hier passiert. Noch bevor ich’s weiß. Als hätte er Ohren in jedem Hühnerstall.“

„Dann werde ich wohl Ihre Arbeit machen müssen.“ Ich warf die Hände in die Luft. „Sie können schon mal eine Zelle vorbereiten. Oder einen Sarg, je nachdem.“

Der Sheriff seufzte laut. „Miss, das ‚tot oder lebendig‘… Das gilt für Ben, nicht für Sie! Haben Sie überhaupt ’ne Kanone?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht schießen.“

Das war nicht einmal gelogen. Und den Kampfsport, den würde ich auch erst ein paar Träume später in jenem Kloster lernen, in dem ich zehn Monate festhing. Mir war klar, dass die Situation hoffnungslos war. Aber was hatte ich für eine Wahl? Tat ich nichts, würde ich in Kiona Bluff sesshaft werden.

Der Sheriff griff seine Kaffeetasse, sah hinein und drehte sie um. Ein paar Körner Sand rieselten heraus. Er seufzte und stellte sie wieder ab.

„Wär’ schade drum, um so’n hübsches Mädel wie Sie. Wenn ich Ihnen ’nen Rat geben darf: Gönnen Sie sich hier zwei ruhige Tage. Übermorgen kommt die Postkutsche zurück. Sie steigen ein, fahren nach Hause, suchen sich ’nen reichen Prinzen, heiraten, kriegen ’ne Armee Kinder und leben glücklich bis ans Ende.“

„Da lass’ ich mich lieber von Ben über den Haufen schießen“, schnaubte ich.

„Ihr Begräbnis, Miss…“, murmelte er. Dann lehnte er sich wieder in seinen Stuhl, warf seine Füße auf den Tisch und setzte sich den Hut auf das Gesicht.

Von diesem Faulpelz würde ich keine Hilfe erwarten können, so viel war klar.

Ich verließ seine Amtsstube und sah mich um. Die Sonne stand bereits tief am Horizont, ein blutroter Feuerball. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie ganz untergehen würde. Gegen Bullet Ben konnte ich heute nichts mehr ausrichten. Es war wichtiger, einen Platz für die Nacht zu finden, wenn ich nicht unter freiem Himmel schlafen wollte. Und das wollte ich nicht.

Gleich gegenüber lag der Saloon. Ich trat ein und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Die Luft roch nach Alkohol, Essen und Holzrauch. In einer Ecke stand ein verstaubtes Piano. An den runden Tischen saßen vereinzelt Gäste. Drei Cowboys pokerten an einem der Tische, sie waren schwer zu überhören. Einer von ihnen lachte laut über einen Witz, den er zum Besten gegeben hatte.

Als der Wirt die fremde Stadtdame sah, die gerade durch seine Schwingtür gekommen war, verschlug es ihm die Sprache. Die beiden Männer am Tresen folgten seinem Blick, starrten mich an, dann rückte einer zur Seite und deutete auf den freien Platz. Ich bedankte mich und stellte mich zwischen sie.

„Was darf’s für Sie sein, Miss?“, fragte der Wirt.

„Etwas Erfrischendes, aber ohne Alkohol.“

Der Wirt nickte. „Sarsaparilla hätt’ ich da. ‘Ne gute sogar.“

„Dann her damit!“

Er nahm ein Glas, schenkte ein dunkles Getränk ein und stellte es mir hin.

„Geht aufs Haus, als Willkommensgruß. Ich bin Clem, der Laden hier gehört mir. Der Herr da neben Ihnen ist Hank, und der Alte zu Ihrer anderen Seite hört auf Jeb. Der hat mehr Geschichten im Kopf als Zähne im Maul.“

Hank nickte zum Gruß, während Jeb gluckste und ein Gebiss präsentierte, das überwiegend aus Zahnlücken bestand.

„Ich heiße Miray“, stellte ich mich vor. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“

„Sie haben sicher Hunger, Miss Miray“, sagte Clem. Einen Augenblick später stellte er mir einen dampfenden Eintopf vor die Nase. Er duftete köstlich, nach Fleisch, Bohnen, Gemüse und Kräutern. Erst da merkte ich, wie hungrig ich war.

Neugierig tauchte ich den Löffel ein und probierte. Der Duft hatte nicht zu viel versprochen. Der Eintopf war dick und herzhaft. Plötzlich gesellte sich Chili dazu und verwandelte den Bissen in ein Stück glühende Lava.

Ich griff nach der Sarsaparilla und versuchte, das Feuer in meinem Mund zu löschen. Es verteilte sich nur, wurde zu einem Großbrand. Ich wandte den Blick ab und rang nach Luft.

„Nicht zu scharf, hoff’ ich?“, fragte Clem besorgt.

Ich betrachtete den Löffel. Er schmolz nicht und löste sich nicht auf. Hoffnung für meinen Magen.

„Verzeihen Sie, Miss“, fing Hank vorsichtig an. „Ist sicher nicht meine Angelegenheit, aber was verschlägt Sie ausgerechnet nach Kiona Bluff? Wir haben hier wenig Besuch. Und kaum welchen wie Sie.“

Mit Schweiß auf der Stirn und Tränen in den Augen sah ich ihn an.

„Ich habe eine Angelegenheit mit Bullet Ben zu erledigen“, krächzte ich heiser.

Das freundliche Lächeln verschwand aus den Gesichtern der Männer. Fassungslos starrten sie sich gegenseitig an.

„Sind Sie mit ihm verwandt?“, fragte Clem schließlich.

Ich schüttelte den Kopf.

„Dann seh’ ich keinen Grund, warum Sie was mit ihm zu schaffen hätten. Sie müssen wissen: Der Bursche ist eiskalt. Der wird gesucht, weil er die Kutsche am Devil’s Peak überfallen hat.“

Ich sah fragend in die Runde.

„Leb’n Sie unterm Stein, Miss?“, krächzte Jeb. „Sechs bewaffnete Mann warn’s, die die Kutsch’ bewacht hab’n, als er sie allein überfiel. Mitten in vollem Galopp! Er hat ’ne Kist’ voll Gold mitgenomm’, den Damenschmuck dazu, und die Knarren von die Kerle außerdem. Eh die wussten, wie ihn’ geschieht, war Ben nur noch ’n Schatten am Horizont.“

Ich grinste schief. „Also ist Ben so jemand wie ein böser Chuck Eastwood.“

Jetzt waren es die Männer, die mich fragend ansahen.

„Na, Chuck Eastwood! Die lebende Legende. Chuck braucht keine Pistole, er kann mit seinen bloßen Fingern tödliche Kugeln schnippen! Noch nie von ihm gehört?“

Clem schüttelte verblüfft den Kopf. Wie hätte er auch von Chuck hören können? Ich hatte mir den Namen gerade ausgedacht.

„Chuck Eastwood?“ Jeb nickte ehrfürchtig. „Sicher hab’ ich von ihm gehört, Miss. Der Mann mit den tausend Gesichtern. Könnt’ jeder sein, und keiner. Einmal hat er sich als Maultier verkleidet, und niemand hat’s gemerkt.“

Ich deutete auf ihn.

„Na also! Gegen einen wie Chuck Eastwood hätte Bullet Ben nicht den Hauch einer Chance. Und wer weiß? Vielleicht kommt er ja eines Tages nach Kiona Bluff und sorgt hier für Recht und Ordnung.“

Clem nickte. „Wär’ zu schön, Miss. Mein Saloon würde besser laufen, aber nach Sonnenuntergang traut sich kaum noch einer raus.“

Das war ein gutes Stichwort.

„Apropos“, sagte ich, „ich suche noch einen Platz für die Nacht.“

Clem erstarrte beinahe. „Hier können Sie nicht bleiben, Miss! Ein Saloon ist kein Ort für eine Dame, und für eine wie Sie schon gar nicht. Außerdem hab’ ich nur zwei Zimmer. Eins hat Matt gerade, wegen seiner… häuslichen Lage.“

Ich nickte. „Ja, der Sheriff hatte so etwas angedeutet. Und das andere?“

„Das gehört Betty. Seit Jahren schon. Sie ist so was wie ein Dauergast.“

Jeb grinste wie ein Frettchen auf Katzenminze. „Is’ so ’ne Art Dienstzimmer, Miss, wenn Sie versteh’n.“

„Halt den Mund, Jeb!“, fuhr Clem ihn an, dann wandte er sich wieder mir zu.

Ich seufzte. „Sonst gibt es nichts? Kein Hotel? Keine Herberge? Es wäre auch nur für zwei Nächte. Ich hoffe, bis zur nächsten Postkutsche habe ich meinen Auftrag erledigt.“

„Das hier ist nicht San Francisco, Miss!“, warf Clem ein. Die Runde lachte. Ich nicht.

Hank räusperte sich. „Nun… Sie könnten für eine Weile in der Schmiede bleiben.“

„Das ist ’ne ausgezeichnete Idee, Hank!“, rief Clem erfreut.

„Und der Schmied wird nichts dagegen haben?“, fragte ich.

„Jake?“ Clem schüttelte langsam den Kopf. „Ich denk’ nicht. Der ist letzte Woche von uns gegangen.“

„Armer Jake!“, ergänzte Hank. „Eine Schlange hat ihn erwischt.“

Für einen Moment sagte niemand etwas. Dann rief einer der Cowboys am Pokertisch Clem zu sich und bestellte eine weitere Runde Whiskey.

Ich trank meine Sarsaparilla aus und stellte das Glas auf den Tresen. „Okay, Hank, es ist spät geworden. Zeigen Sie mir die Schmiede?“

Hank nickte und nahm seinen Hut. Zusammen verließen wir den Saloon.

Draußen war es nun spürbar kühler. Wir gingen schweigend die Straße entlang und erreichten die Schmiede am Ortsrand. Mit dem großen Holztor an der Front sah sie zuerst aus wie eine Scheune. Nur das Schild Blacksmith J. Tanner verriet ihren Zweck.

Hank zog einen Schlüssel aus seiner Westentasche und öffnete damit eine Tür, die sich gleich neben dem Tor befand. Dann ließ er mich hinein.

In der Schmiede war es stockdunkel. Im wenigen Licht, das durch ein trübes Fenster fiel, konnte ich bloß die Schemen von der Esse und einem Amboss ausmachen. Der Geruch von Metall, Asche und verbranntem Öl lag in der Luft, obwohl der Ort bereits eine Weile nicht mehr in Betrieb war.

„Ich war mit Jake befreundet“, erzählte Hank, während er sich zu einer weiteren Tür vorantastete. „Ich passe auf die Schmiede auf, bis sein Bruder herkommt und sich selbst um die Angelegenheiten kümmert.“

Er öffnete die Tür, betrat eine Kammer und zündete dort eine Öllampe an. Ich folgte ihm in den spärlich beleuchteten Raum.

„Nun, es ist nicht das Astor House und gewiss auch nicht das, woran eine Dame wie Sie gewöhnt ist. Aber ich hoffe, für zwei Nächte reicht es.“

Ich sah auf das Bett, welches sicher ein Luxushotel für seine Bewohner war, einer Kolonie von Bettwanzen.

Hank bemerkte meinen Blick. „Armer Jake. Das war der Ort, an dem er gestorben ist.“

Ich starrte ihn entsetzt an. „Was, das Bett? Ich dachte, er starb an einem Schlangenbiss!“

Hank nickte.

„Ja, das tat er auch. Eine Klapperschlange erwischte ihn. Nachts, in seinem Bett.“

Er seufzte.

„Jedenfalls vermutet der Doc, dass es eine Klapperschlange war. Wir haben sie nicht gefunden.“

Hank setzte seinen Hut auf und nickte zum Abschied.

„Nun denn, gute Nacht, Miss Miray.“ Er deutete auf den Schlüssel, den er auf den Tisch gelegt hatte. „Sperren Sie besser ab. Man weiß nicht, was sich um diese Zeit draußen so herumtreibt.“

Die möglichen Mitbewohner in der Schmiede bereiteten mir in dem Moment mehr Unbehagen. Trotzdem schloss ich hinter Hank die Tür ab und prüfte danach den schweren Riegel, der das Tor von innen versperrte.

Dann tat ich etwas, was ich schon die ganze Zeit machen wollte: Ich schälte mich aus mehreren kiloschweren Petticoats und legte das Korsett ab.

Langsam ließ ich mich auf den Amboss sinken und seufzte tief. Ich hatte schon andere Traumreisen erlebt, aber keine sah damals so aussichtslos aus wie diese.

Ich hob die Öllampe hoch und sah mich um. An einer Wand hingen Hufeisen, Eisenstangen und Werkzeuge ordentlich aufgereiht. Gegenüber war die Esse, daneben ein riesiger Blasebalg. Eine einfache Trennwand teilte den Raum. In der Kammer dahinter stand ein kleiner Arbeitstisch mit Hämmerchen, Feilen und Zangen. Offensichtlich war Jake nicht nur Hufschmied, sondern hatte auch Schmuck und andere feine Arbeiten angefertigt.

Zwei Seile führten zur Decke. Ich zog an einem, und eine kleine Luke auf dem Dach öffnete sich quietschend. Mit dem zweiten schloss ich sie wieder. Eine simple Mechanik, vermutlich, um Hitze hinaus- oder Licht hineinzulassen.

Ich ging in den Wohnbereich. In einer Ecke stand ein Bett – jenes Bett, in dem Jake einschlief und nicht mehr aufwachte. Daneben war ein kleiner Kaminofen, auf dem ein Topf stand, die Kelle noch darin. Ein paar Fliegen stritten sich um das, was einst eine Mahlzeit war. Ich hielt es für besser, nicht unter den Deckel zu schauen.

In der Dunkelheit stieß ich mir den Zeh und fluchte leise. Ich hob die Lampe und bemerkte einen einfachen Holztisch mit zwei wackeligen Stühlen. Auf dem Tisch stand ein verbeulter Zinnbecher, daneben lag ein Löffel. Es wirkte, als würde Jake jeden Moment zur Tür hereinkommen und sich setzen.

Im hinteren Teil des Raumes knarrten die Dielen und der Boden gab unter meinem Gewicht ein wenig nach. Ich sah nach unten und entdeckte eine Holzluke mit einem Eisenring, an dem ich sie hochziehen konnte. Eine schmale Leiter führte in die Dunkelheit.

Neugierig stieg ich hinab und leuchtete den Raum aus. Es war ein kleiner Keller, einfach in den Fels gehauen und so niedrig, dass ich meinen Kopf beugen musste. Links stand ein schiefes Holzregal mit verbeulten Konserven. Rechts fand ich ein paar Holzfässchen.

Dann fiel mein Blick auf etwas. Ich hielt die Luft an, zog hastig die Lampe weg und bewegte mich vorsichtig einen Schritt zurück. Als ich die Leiter erreichte, eilte ich sie hoch und ließ die Luke zufallen.

„Läuft“, seufzte ich. „Eine Klapperschlange im Bett und Fässchen mit Schwarzpulver im Keller. Für einen perfekten Abend fehlt nur noch ein Grizzly auf dem stillen Örtchen.“

Ich ging zum Fenster und sah hinaus. Der Mond hing matt über der Steppe. Alles war still. Nur ein Rudel Kojoten heulte in der Ferne.

Wie sollte ich Bullet Ben fangen? Den unbesiegbaren Bullet Ben? Der Bullet Ben, der noch nie daneben geschossen hatte?

Im Fensterglas spiegelte sich mein Gesicht. Das von Miray. Der unbewaffneten Miray. Der Miray, die dieses Abenteuer trotzdem bestehen musste.

Ich sah mich an. Lange. Die Miray im Spiegelbild wusste, wie. Sie grinste mich an. Zwinkerte mir zu. Ihr Grinsen wurde immer breiter. Und plötzlich, da wusste ich es auch.

Meinen Plan würde ich allerdings erst morgen in die Tat umsetzen können. Zuerst brauchte ich ein wenig Schlaf. Also bereitete ich mein Nachtlager vor und legte mich hinein. Es war hart und unbequem. Nach ein paar Stunden schlummerte ich trotzdem ein.

Das Krähen eines Hahns weckte mich.

Ich öffnete die Augen und stieß erschrocken einen Schrei aus. Ein Junge stand mir gegenüber. Er hatte ein rundes Gesicht mit Sommersprossen, dunkle Haare, tiefschwarze Augen, und er trug eine rote Mütze, die schief auf seinem Kopf saß.

„Guten Morgen, Miss“, begrüßte er mich und musterte mich neugierig.

Ich atmete einmal tief durch. „Hast du mir einen Schrecken eingejagt, Junge!“

„Wollt’ ich nicht, Miss“, entschuldigte er sich verlegen.

Ich setzte mich hin und sah mich um.

„Wie bist du überhaupt hier hereingekommen? Ich habe doch die Tür verriegelt!“

„Cal“, antwortete er.

Ich sah ihn fragend an.

„So heiß’ ich, Miss.“

„Cal“, wiederholte ich. „Ich heiße Miray.“

Der Junge nickte. „Die Vordertür haben Sie verriegelt, Miss Miray“, antwortete er und grinste schelmisch. „Aber die Hintertür nicht.“

Er deutete auf das Bett. Es war unbenutzt.

„Warum haben Sie auf dem Tisch geschlafen?“

„Weil ich mich hier oben sicherer gefühlt habe.“

„Wegen der Schlange, meinen Sie?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich glaub’ nicht, dass sie noch hier ist, Miss.“

„Glauben ist keine besonders gute Lebensversicherung, Cal.“

Ich stand auf und richtete mir die lange Unterwäsche, die ich in der Nacht getragen hatte.

„Ich… ich sollte wohl besser gehen“, sagte Cal verlegen und wandte sich halb ab.

Überrascht sah ich ihn an, bevor ich begriff. Aus seiner Sicht hatte ich mit der Chemise und dem Unterrock praktisch nichts an. Ich konnte ihm schlecht erklären, dass das, was ich trug, heutzutage schon fast als zugeknöpfte Abendgarderobe durchgegangen wäre.

„Du kannst ruhig bleiben“, sprach ich gelassen und zwinkerte. „Aber behalt’s für dich, ja?“

Cal prustete kurz. „Miss, das würde mir sowieso keiner glauben!“

Ich zwang mich ins Korsett, band mir das Halstuch um und legte Schicht für Schicht meine Stoffrüstung an. Kaum war ich damit fertig, knurrte mein Magen.

„Weißt du, wo ich hier etwas zum Frühstücken finde?“

„Ach“, rief er und warf die Hand auf seine Mütze, „das hätt’ ich fast vergessen!“

Er rannte zur Hintertür und kam mit einem Weidekorb zurück. Stolz drückte er ihn mir in die Hand.

„Hank war gestern noch bei uns auf der Farm“, erklärte er eifrig. „Er hat gesagt, Sie schlafen hier in der Schmiede, und wir sollen Ihnen was zu essen bringen.“

„Das ist sehr nett von euch“, sagte ich und lächelte. „Hast du schon gefrühstückt?“

„Noch vor Sonnenaufgang, Miss“, antwortete er. „Aber ich leiste Ihnen gerne Gesellschaft.“

Ich machte Platz auf dem Tisch, stellte den Korb darauf ab und räumte ihn aus. Darin war ein Brot, Käse, Marmelade, etwas Obst und eine Zinnflasche mit Tee. Es war an alles gedacht. Sogar ein Brett und Besteck fand ich dort. Ich breitete alles aus und fing an, mein Frühstück zu genießen.

Cal saß mir gegenüber und beobachtete aufmerksam jede meiner Bewegungen.

„Was machen Sie eigentlich in Kiona Bluff?“, fragte er, als ich gerade in mein Brot biss.

„Ich habe noch eine Rechnung offen, mit Bullet Ben“, sagte ich kauend.

„Bullet Ben?“

Der Junge wäre vor Schreck fast vom Stuhl gefallen.

„Seien Sie bloß vorsichtig, Miss Miray! Der hat mal einen im Saloon erschossen, der ihn verpfiffen hat. Von seiner Hütte an den Klippen aus!“

Ich nickte. „Hast du schon mal von Chuck Eastwood gehört?“

Cals Augen begannen sofort zu funkeln.

„Klar kenn’ ich Chuck Eastwood! Alle reden über ihn. Ich hab’ gehört, der weiß, was du denkst, noch bevor du’s selbst tust. Haben Sie ihn wirklich gesehen?“

„Unsere Wege haben sich schon ein paar Mal gekreuzt.“

„Sagen Sie bloß, er kommt nach Kiona Bluff, um Ben zu holen?“

Ich grinste geheimnisvoll. „Könnte sein, Cal. Könnte sein.“

Cal sah aus, als hätte sich der Weihnachtsmann persönlich angekündigt.

„Oh Mann“, rief er aufgeregt, „ich hoff’ bloß, ich verpass’ ihn nicht!“

Das Frühstück war mehr als ausreichend. Satt wischte ich mir den Mund ab, räumte die Sachen zurück in den Korb und bedankte mich bei dem Jungen.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte er neugierig.

„Jetzt?“ Ich grinste breit. „Jetzt gehen wir einkaufen. Das heißt, wenn du Zeit hast.“

Cal nickte begeistert. Er griff meine Hand und zog mich aus der Schmiede.

„Was brauchen Sie denn?“, fragte er, als wir auf der Straße standen. „Viel gibt’s hier nicht, aber vielleicht finden wir einen netten Hut für Sie. Oder lieber ein neues Kleid?“

Ich dachte einen Augenblick nach.

„Zuerst brauche ich ein paar Ofenrohre.“

Cal machte einen Satz zurück. „Ofenrohre!“, wiederholte er laut. „Sie sind echt eine seltsame Miss! Aber Luther hat bestimmt welche. Kommen Sie, ich zeig’ Ihnen den Laden.“

Er führte mich an das andere Ende der Hauptstraße. Dort stand ein breites Holzhaus mit einem verwitterten Schild: Luther Cobb’s Hardware. Im Schaufenster lagen Bürsten, Werkzeuge, Fläschchen und allerlei Kleinkram aus, auf der Veranda davor Eimer, Fässer und Bottiche in allen nur denkbaren Größen.

Die Tür stand offen, und wir traten ein. Der intensive Geruch von Holz, Schmierfett und ranzigem Öl kitzelte mir sofort unangenehm in der Nase.

Luther Cobb war ein älterer Herr mit grauen Lockenhaaren, einem ebenso grauen Spitzbart und einer runden Brille auf der Nase. Er stand an der Theke und schrieb in ein Buch, das vor ihm aufgeschlagen lag. Hinter ihm nahm ein großes Holzregal die Wand ein, in dem allerlei Schachteln, Dosen und Flaschen gestapelt waren.

Cobb blickte für einen kurzen Moment auf und bemerkte Cal.

„Sag deinem Vater, die Säge, die er bestellt hat, war gestern nicht dabei“, brummte er, bevor er sich wieder in sein Buch vertiefte. „Vielleicht kommt sie mit der nächsten Kutsche.“

„Deswegen bin ich nicht hier, Luther“, platzte Cal heraus. „Die Miss hier kennt Chuck Eastwood!“

Überrascht nahm Cobb die Brille ab und starrte mich an.

„Sie kennen Chuck Eastwood?“, fragte er verblüfft. „Man hört nur Großartiges über ihn. Er soll ’nen Revolver haben mit dreißig Kugeln drin!“

„Stimmt!“ Ich nickte. „Und wenn er will, feuert er alle gleichzeitig ab.“

Cobb zupfte an seinem Bart. „Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?“

„Ich brauche Ofenrohre. Etwa dreißig Fuß lang.“

„Dreißig Fuß?“ Er stutzte. „Das ist ’ne Menge, Miss! Haben Sie Ihren Mann da richtig verstanden?“

„Dreißig Fuß“, wiederholte ich genervt. „Haben Sie die?“

Cobb sah in eine Ecke, wo mehrere Rohre säuberlich gestapelt lagen.

„Wie Sie meinen, Miss“, murrte er schließlich. „Bei der Menge gebe ich Ihnen einen Preisnachlass.“

Ich winkte ab. „Ich habe nicht genug Geld, aber ich brauche sie sowieso nur geliehen. Morgen bringe ich sie zurück.“

Cobb sah mich an, als hätte ich ihm vorgeschlagen, mir seinen ganzen Laden zu schenken.

„Miss, ich weiß ja nicht, welche neuen Sitten Sie aus der Stadt mitbringen, aber ich verleihe keine Ofenrohre, ich verkaufe sie.“

Ich tippte mir auf die Nasenspitze.

„Kann ich wenigstens ein paar Scheiben Fensterglas haben?“

„Glas führe ich nicht!“

Cobb verschränkte die Arme.

„Wenn Sie sonst keine Wünsche mehr haben, Miss… Ich hab’ Buchführung zu erledigen. Einen guten Tag noch.“

Demonstrativ setzte er sich seine Brille auf und versank wieder in seinen Papierkram.

Vor dem Laden blieben wir stehen. Ich sah Cal frustriert an. Er zuckte bloß mit den Schultern.

„Miss Miray“, fragte er leise, „was ist eigentlich ’ne Hortkröte?“

Ich schluckte. „Habe ich Mr. Cobb tatsächlich so genannt?“

Cal nickte.

„Dann habe ich wohl nur laut gedacht“, murmelte ich verlegen.

Ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht. „Ihre Gedanken sind gefährlicher als ’n geladener Colt, Miss.“

Ich sah zurück zur Ladentür. Cobb konnte mir nicht weiterhelfen.

„Gibt es noch einen anderen Laden, der Ofenrohre und Glasscheiben hat?“, fragte ich.

Cal hatte einen Stein vom Boden aufgelesen und drehte ihn in seiner Hand.

„Leider nicht, Miss. Luther ist der einzige. Aber in der Stadt gibt’s ’nen Glaser, keine sechs Meilen von hier.“

„Wie soll ich da denn hinkommen?“

„Müssen Sie gar nicht.“ Cal grinste breit. „Der Glaser kommt in einer Stunde her.“

„Was…“, begann ich, als sein Stein bereits durch die Schaufensterscheibe von Cobbs Laden krachte.

„Schnappen Sie sich die Ofenrohre!“, rief Cal mir zu, bevor er losrannte, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen.

Im nächsten Augenblick erschien Cobb in der Tür.

„Calvin!“, rief er laut und spurtete los. „Calvin, wenn ich dich erwische, ziehe ich dir die Ohren lang!“

Ich sah den beiden hinterher. Cal hatte einen guten Vorsprung, aber Cobb war für sein Alter überraschend flink. Er schleuderte seine Faust, während seine Stiefel im Sand knirschten. Der Junge lachte laut, schlug einen Haken und verschwand hinter einem Haus.

Ich nutzte die Gelegenheit, um in den unbewachten Laden zu gehen und mir so viele Ofenrohre zu nehmen, wie ich tragen konnte. Ich schleppte sie zur Schmiede und verstaute sie in einer Ecke.

Dann stellte ich mich gegenüber vom Hardware Store in den Schatten und wartete.

Cobb kehrte kurze Zeit später zurück. Er betrachtete sich das Loch in seinem Fenster, bevor er knurrend im Laden verschwand.

Eine Stunde war vergangen, als tatsächlich der Glaser kam. Kaum hatte er sein Pferd angebunden und den Laden betreten, nutzte ich die Gelegenheit. Ich schlich zu seiner Kutsche und nahm ein Bündel Glasscheiben mit. Mehr würde ich nicht brauchen.

Jetzt fehlte nur noch eine Zutat: Cowboy-Outfits. Ich ging die Hauptstraße entlang, suchte nach einem Kleiderladen, aber fand zunächst nur einen Arzt, eine Telegrafenstation, einen Bestatter und eine Kirche.

Vor einem General Store blieb ich schließlich stehen. Im Fenster hing ein Farmerkostüm. Nicht ganz das, was ich suchte, aber vielleicht gab es drinnen mehr.

Der Laden war vollgestopft mit allem, was man zum Überleben brauchte. Das Regal hinter der Theke bog sich unter Flaschen, Konservendosen und Einmachgläsern, daneben stapelten sich Getreidesäcke. In einem anderen Regal entdeckte ich Einrichtungsgegenstände wie Schalen, Kissen und Stoffballen.

Hinter der Theke standen die beiden Besitzer, offensichtlich ein Ehepaar. Er trug ein Leinenhemd unter seiner Lederweste, und unter seinem schütteren Haar saß eine Brille mit kreisrunden Gläsern. Sie hatte eine graue Bluse mit hohem Kragen an, darüber eine bunte Schürze mit tiefen Taschen.

Die beiden waren gerade in ein Gespräch vertieft.

„Glaubst du, es stimmt, dass Chuck Eastwood nach Kiona Bluff kommt, Walter?“, fragte sie aufgeregt.

Ihr Mann nickte. „Er soll schon unterwegs sein. Sein Pferd ist schneller als der Donner und ausdauernder als ’ne Lokomotive.“

Sie nestelte an ihrem Ärmel. „Wie er wohl aussehen mag?“

„So groß wie ein Riese“, sagte Walter. „Und so stark wie zehn Ochsen.“

„Und seine Stimme?“

Walter sah sie stirnrunzelnd an. „Du scheinst dich sehr für Mr. Eastwood zu interessieren, Hattie.“

Ich räusperte mich. „Seine Stimme ist laut und kräftig. Wenn er will, hört man sie überall. Und doch klingt sie so lieblich wie ein Bad in warmer Milch mit Honig.“

Die beiden drehten sich erschrocken zu mir um.

„Sie kennen Mr. Eastwood?“, fragte Hattie.

Ich nickte. „Von Stunde zu Stunde besser.“

Walter zog sich seine Weste zurecht. „Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?“, fragte er unwirsch.

„Ich brauche drei Cowboy-Outfits. Hemd, Hose, Hut. Alles.“

Er blickte sich im Laden um, dann sah er mich an, als hätte ich etwas Wichtiges vergessen.

„Da schicken Sie am besten Ihren Mann vorbei, zum Maßnehmen.“

„Ich brauche keinen Mann“, knurrte ich. „Ich selbst bin das Maß.“

Walter zog die Brauen hoch. Hattie warf ihm einen strengen Blick zu, zog ein Maßband aus ihrer Kitteltasche und begann, meine Maße zu nehmen. Sie rief ihm Zahlen zu, er notierte sie in ein Buch.

Als sie fertig war, fuhr er mit dem Finger durch die Seiten, tippte auf eine Stelle und lächelte.

„Sie haben Glück, Miss! In drei Wochen können Sie die Outfits abholen.“

Ich sah ihn überrascht an. „In drei Wochen erst?“

„An was dachten Sie denn?“, fragte Hattie verblüfft.

„Eigentlich brauche ich sie schon heute Abend.“

Hattie schüttelte empört den Kopf.

„Glauben Sie, Kleidung in allen Größen lagert einfach im Regal? Selbst wenn ich alles andere stehen und liegen lasse, brauche ich eine Woche, um das Material zu besorgen.“

Ich kratzte mir den Kopf. „Nichts zu machen?“

„Miss“, sagte sie, „nicht einmal Chuck Eastwood würde das bis heute Abend schaffen!“

Ich verließ den Laden, lehnte mich gegen den Anbindebalken und seufzte. Es war bereits Nachmittag. Viel Zeit blieb mir nicht mehr, um die Outfits zu besorgen. Ich hätte Cal gefragt, doch seit seinem Streich mit der Fensterscheibe war er verschwunden. Hoffentlich hatte er sich nicht zu viel Ärger eingehandelt.

Frustriert schritt ich die Straße entlang. Vielleicht hoffte ich auf ein Wunder: ein großes Bekleidungsgeschäft, wie es in jeder modernen Einkaufsstraße zu finden ist. Was ich stattdessen fand, war der Saloon. Ich schob die Flügeltür auf und stampfte missmutig zum Tresen.

„Sieht so aus, als könnten Sie einen Drink gebrauchen“, empfing Clem mich und stellte mir eine Sarsaparilla hin.

Ich nickte stumm und nahm einen tiefen Schluck.

Am Tisch hinter mir brach Gelächter aus. Die drei Cowboys pokerten und tranken Whiskey. Immer noch oder schon wieder, keine Ahnung. Aber es war eine Gelegenheit, auf andere Gedanken zu kommen. Ich drehte mich zur Seite und sah ihnen eine Weile gelangweilt zu.

Dann bemerkte mich einer von ihnen.

„Was ist, Miss?“, rief er mir zu. „Noch nie Männer beim Pokern gesehen?“

„Doch, doch.“ Ich ging zum Tisch. „Wie wär’s, darf ich mitspielen?“

„Kennen Sie überhaupt die Regeln?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich denke, ich weiß, wie herum man die Karten hält.“

Der Cowboy schob mit seinem Fuß einen Stuhl zur Seite. Ich nahm mein Glas und setzte mich.

„Wir spielen aber um Geld, nur dass Sie’s wissen“, mahnte er. „‘Nen Dime für den Einstieg.“

Ich kramte in meiner Tasche, holte ein paar Münzen heraus und stapelte sie vor mir. Viel war es nicht, vielleicht drei Dollar.

„Schauen wir mal, wie lange das reicht.“

„Sicher nicht lange“, murmelte der Cowboy und begann zu mischen.

„Ich bin Boone“, stellte er sich vor. „Der andere Gentleman neben Ihnen heißt Rudy, und der Ihnen gegenüber mit dem Gesicht ist Zeke.“

„Miray“, sagte ich knapp, warf meinen Einsatz in die Mitte des Tisches und nahm die Karten auf, die Boone mir gegeben hatte.

Zeke glotzte mich an, als hätte ich an der Stirn ein drittes Ohr. Dann griff er sein Glas und nahm einen beherzten Schluck, bevor er sich zu fragen traute.

„Was macht ’ne Lady wie Sie in Kiona Bluff?“

„Ich besuche einen alten Freund“, antwortete ich kurz. Dann bat ich Boone um vier neue Karten.

„Sollen Sie haben, Missy“, grinste er. Er tauschte sie aus und warf seinen Freunden einen Blick zu, der irgendwo zwischen Mitleid und Spott lag.

„Haben Sie schon von Chuck Eastwood gehört?“, fragte ich in die Runde. „Man sagt, er kommt morgen nach Kiona Bluff.“

„Chuck Eastwood!“, rief Zeke und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Was für ein Teufelskerl! Die Zeit soll er zurückdrehen können, nur um dich ein zweites Mal zu erschießen.“

Ich nickte. „Und ich habe gehört, dass er sich unsichtbar machen kann. Er ist überall. Und nirgendwo.“

Ich ließ den Blick durch den Raum gleiten, beugte mich vor und flüsterte: „Wer weiß, vielleicht ist er schon hier im Saloon!“

Die Jungs warfen weitere Münzen in die Tischmitte. Ich hielt es für besser, zu passen. Rudy stieg kurz danach auch aus. Boone und Zeke zockten weiter. Am Ende ging der Pot an Zeke. Er grinste mich an, als hoffte er zur Belohnung auf ein Leckerli.

Die Zeit verging. Wir klopften Karten, tranken, erzählten Geschichten. Runde um Runde. Ich verlor jede davon.

„Sie haben einfach kein Glück“, sagte Zeke, als er wieder einen Pot zu sich zog.

„Oder kein Talent“, warf Boone ein. „Vielleicht sollten Sie beim Stickrahmen bleiben, Missy. Karten sind zu gefährlich für Sie.“

„Noch eine Runde!“, bettelte ich. „Ich bin mir sicher, dieses Mal habe ich Glück.“

„Wie Sie meinen, Missy“, knurrte Boone trocken.

Ich nahm die Karten, mischte sie und teilte aus.

Währenddessen kam Clem an den Tisch. Er stellte mir eine frische Sarsaparilla hin, dann beugte er sich zu mir.

„Miss“, flüsterte er, „vielleicht hören Sie besser auf, bevor Sie alles verlieren.“

Ich nickte ihm zum Dank zu. Aber ich hörte nicht auf. Ich zog es durch und spielte jede Erhöhung mit, bis mein letzter Cent in der Mitte lag.

Gespannt beobachtete ich Rudy. Er überlegte kurz, dann schob er zwei weitere Münzen nach. Zeke und Boone zögerten kaum und gingen mit.

„Tja“, meinte Boone, als er seinen Einsatz klimpernd auf den Haufen legte, „war nett mit Ihnen, Missy.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Aber Sie sind blank!“, rief Zeke.

„Ich habe kein Geld mehr, das stimmt.“ Ich rieb mir die Nasenspitze und sah langsam in die Runde. „Aber ich könnte was anderes in den Pot legen.“

Ohne den Blick von ihnen zu nehmen, öffnete ich den obersten Knopf meines Kleids. Ganz beiläufig.

Die Cowboys wurden rot. Rudy sah verlegen zur Seite.

„Was… was meinen Sie?“, stammelte Zeke.

„Meine Kleider“, sagte ich nüchtern. „Ihr spielt gegen mich. Verliere ich, sind sie weg. Gewinne ich, gehören mir eure. Aber entweder verlasse ich nach dieser Runde den Saloon in Unterwäsche, oder ihr.“

Die drei sahen sich an.

„Also, da bin ich raus“, murmelte Rudy und parkte seine Karten neben seinem Whiskeyglas.

Ich schüttelte den Kopf. „Alle oder keiner.“

Meine Hand zitterte leicht, als ich mein Glas nahm und an der Sarsaparilla nippte. Prompt verschluckte ich mich und keuchte leise.

„Die Missy blufft!“, rief Boone in die Runde.

Ratlos sahen Zeke und Rudy ihren Kumpel an. Er nickte ihnen eifrig zu. Sie zögerten.

„Nun gut, wenn ihr die Hosen voll habt…“, sagte ich hastig und langte zur Tischmitte. Doch bevor ich den Pot nehmen konnte, packte Boone meine Hand.

„Du hast den Einsatz gehört“, rief er zu Clem. „Du bist Zeuge!“

Clem verschränkte die Arme. „Ich sag’s euch gleich, und auch Ihnen, Miss“, brummte er. „In meinem Saloon werden Wettschulden bezahlt. Wer’s sich hinterher anders überlegt, muss das mit meiner Winchester ausmachen. Und eingelöst wird hinten in meinem Büro, nicht hier am Tisch.“

„Also gut, Deal!“ Boone lehnte sich zurück, schob seine Karten zusammen. „Mal sehen, wer gleich gerupft wird wie ein Truthahn.“

Rudy begann und warf seine Karten auf den Tisch. „Das war nix bei mir“, murmelte er, „aber wenn ihr was Besseres habt, ist die Lady geliefert.“

Es folgte Zeke. Er deckte zwei Paare auf, knackte mit den Fingern und lehnte sich zurück.

„Ganz nett“, sagte Boone. „Aber ich denke, der Pot geht an mich.“

Mit einem breiten Grinsen legte er ein Full House mit drei Assen hin.

„Das war’s dann wohl, Missy. Gehen wir nach hinten.“

Ich nickte langsam. Betrachtete das Blatt in meiner Hand. Dann legte ich es hin. Eine Karte nach der anderen. Ganz genüsslich.

Als ich fertig war, lag vor mir auf dem Tisch ein Straight Flush.

Boone starrte mich mit offenem Mund an. Er strich durch meine Karten, hoffte, einen Fehler zu finden. Irgendeinen. Entsetzt drehte er sich zu Zeke, doch der blickte auf den Boden und fluchte leise.

„Hätt’ ich bloß nicht auf euch Idioten gehört“, schimpfte Rudy.

„Hat Spaß gemacht, Jungs.“ Ich nahm den Kartenstapel, mischte ihn mit einer flinken Bewegung in einer Hand und legte ihn lässig vor Boones Nase ab. „Jetzt passt auf, dass euch auf dem Heimweg nicht kalt wird.“

„Meine Herren“, sagte Clem und deutete mit einem Nicken auf die Tür neben dem Tresen, „wenn ich um eure Wetteinsätze bitten darf.“

Er begleitete die drei Cowboys nach hinten und kehrte wenige Minuten später zurück, mit einem Bündel Wäsche unter dem Arm und einem Gesicht, das lieber nicht darüber reden wollte.

„Ich hab schon viel gesehen in Kiona Bluff“, flüsterte er mir zu, „aber das war neu. Da war doch mehr als nur Glück dabei, oder? Wo haben Sie gelernt, so zu pokern?“

„Glück ist etwas für Anfänger“, antwortete ich. Ich setzte mir einen der Hüte auf und rückte ihn zurecht. „Ich hatte einen guten Lehrer: Chuck Eastwood.“

Dann bezahlte ich meine Rechnung, nahm die Sachen und verließ den Saloon.

Ein bisschen taten mir die drei Cowboys leid, denn es war kein Spiel auf Augenhöhe. Sie spielten nach Bauchgefühl und Machoehre, ich mit Pokerstrategie, Wahrscheinlichkeitsrechnung und den Ticks, die sie verrieten. Rudy fummelte an seinen Karten, wenn er nichts hatte. Zeke wurde betont lässig, wenn es gut für ihn lief. Boone trank schneller, wenn er bluffte. Und ich? Ich spielte ihnen die naive Dame aus der Stadt vor, die sie in mir sehen wollten.

Egal! Ich hatte die letzte Zutat für meinen Plan. Jetzt musste ich nur noch den Köder auswerfen.

Ich fand Bullet Bens Hütte, wo der Sheriff sie beschrieben hatte: In der Nähe einer Wüstenklippe, etwa eine Stunde zu Fuß vom Ort entfernt.

Die Hütte war klein und sah aus wie ein hölzerner Wohnwagen, bei dem man die Räder vergessen hatte. Sie stand mitten in der Einöde. Ein Zaun umschloss das Grundstück, als könnte jemand Interesse daran haben, seinem Besitzer dieses Stück leere Wildnis streitig zu machen.

Ein Mann saß in einem Schaukelstuhl auf der Veranda. Als er mich bemerkte, nahm er eine Prise Schnupftabak, erhob sich und kam auf mich zu. Er war klein und kompakt. Sein schwarzer Schnurrbart war struppig und ungepflegt, hing wie eine Bürste unter seiner Nase. Seine verhältnismäßig kurzen Beine kompensierte er mit einem großen Hut und einem noch größeren Ego.

„Haben Sie sich verlaufen, Miss?“, rief er mir zu. Die Stiefel klapperten, als er breitbeinig auf mich zuschritt.

„Weiß nicht“, antwortete ich und blinzelte ihn an. „Ich suche Bullet Ben.“

„Haben Sie gefunden. Was woll’n Sie von mir?“

„Ich habe eine Nachricht von Chuck Eastwood.“

Ben spuckte aus, ein dicker Tropfen landete vor seinem Schuh.

„Chuck Westwood! Chuck Westwood!“, schimpfte er laut. „Seit gestern sind plötzlich alle wie besessen von dem Kerl.“

Ich blickte ihm direkt in die Augen.

„Chuck lässt ausrichten: Er kommt morgen und erwartet Sie zum Duell, High Noon, an Jakes Schmiede.“ Ich schmunzelte provokativ. „Es sei denn, Sie haben Angst vor ihm.“

„Ich? Angst vor diesem Chick Eastwood?“ Er lachte abfällig. „Niemals!“

„Ich könnte es verstehen. Ich würde nicht gegen einen Mann antreten, der keinen Schatten wirft.“

Wieder spuckte Ben aus.

„Alles nur Märchen, Miss. Bestellen Sie schon mal ’nen Sarg für Chucky! Meine Kugeln haben noch nie ihr Ziel verfehlt.“

„Na und?“ Ich sah ihn ruhig an. „Chuck wurde noch nie von einer Kugel getroffen!“

Ben runzelte die Stirn. „Das ist… Das ist nicht dasselbe, Miss“, stammelte er.

„Also morgen Mittag?“

Er blähte sich auf und fuchtelte mit dem Zeigefinger. „Morgen Mittag. Und sagen Sie diesem Chip Eastfield, er soll sein bestes Hemd anziehen. Es wird das Hemd sein, in dem sie ihn verbuddeln werden.“

Ich ließ Ben an seinem Gartenzaun zurück und machte mich auf den Weg nach Kiona Bluff.

Als ich die Schmiede erreichte, war die Sonne bereits untergegangen. Mir schmerzten die Füße von dem langen Marsch, ich war erschöpft und müde. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Ich hatte noch eine Bühne aufzubauen.

Das Material hatte ich bereits zusammen. Ich stellte die Öllampe auf den Amboss, nahm einen Hammer von der Wand, griff eine Kiste Nägel und sah mir die Baustelle an.

Keine Ahnung, wie lange ich beschäftigt war, aber der Morgen dämmerte bereits, als ich den letzten Nagel in die Wand schlug. Ich machte einen Schritt zurück und betrachtete das Ergebnis.

„So, fertig ist der Mops“, murmelte ich zufrieden und klopfte mir den Staub von den Händen. „Ben kann kommen.“

Dann legte ich mich auf den Tisch und gönnte mir eine Pause. Nur für einen Moment, dachte ich mir. Ein paar Minuten.

Ein heftiges Schütteln weckte mich.

„Miss!“, rief Cal aufgeregt. „Miss, Sie müssen verschwinden!“

Ich riss die Augen auf. Draußen war es längst taghell.

Rasch setzte ich mich hin. „Wie spät ist es, Cal?“

„Fast Mittag, Miss“, keuchte er. „Sie müssen hier weg! Bullet Ben ist in der Stadt. Er sucht Chuck Eastwood. Das gibt garantiert eine Schießerei!“

„Ich passe schon auf mich auf. Lauf nach Hause, Cal!“

„Kommt Chuck Eastwood denn wirklich?“, fragte er. „Oh Mann, das muss ich sehen!“

„Nein, du gehst!“, sagte ich scharf. „Hier ist es viel zu gefährlich für dich!“

Er sah furchtbar enttäuscht aus, als ich ihn zur Hintertür schob und wie einen Hund aussperrte. Aber es war zu seinem Besten.

Eigentlich plante ich eine Generalprobe, doch die Zeit hatte ich nicht mehr. Jetzt konnte ich nur noch hoffen, dass alles glatt über die Bühne ging.

Ich warf mich in die Kleidung, eilte nach nebenan und prüfte meine Arbeit ein letztes Mal. Alles schien an seinem Platz zu sein, bereit für den Showdown.

Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Nun begann der gefährlichste Teil meines Abenteuers.

Die Sonne stand hoch am Himmel, als Bullet Ben die Schmiede erreichte. Er war ein wenig zu früh, konnte das Duell wohl nicht mehr erwarten.

Das Tor der Schmiede öffnete sich. Jemand schritt langsam heraus und trat ins Sonnenlicht. Es war ein Cowboy. Seinen Hut hatte er tief ins Gesicht gezogen, ein rotes Tuch um seinen Hals gebunden.

„Bist du das, Duck Needwood?“, rief Ben.

Der Cowboy nickte langsam.

„Du willst mich also kriegen? Hab’ schon bessere gesehen, die’s versucht haben!“

Der Cowboy neigte den Kopf zu Seite. Dann drehte er sich um und ging in die Schmiede zurück.

„Was soll das?“, rief Ben ihm hinterher. „Da drin sitzt du in der Falle, Threepwood!“

Ben folgte dem Cowboy und blieb hinter dem Tor stehen. Drinnen erwartete ihn völlige Dunkelheit. Die Fenster waren mit Ruß geschwärzt, die Ritzen im Holz säuberlich abgedichtet. Er kniff die Augen zusammen, als ob das etwas helfen würde.

„Du bist zu früh, Ben!“, dröhnte eine Stimme von rechts, laut und gespenstisch.

„Zu früh zu deiner eigenen Beerdigung, Ben!“, kam die Stimme nun von links.

Ben schnaubte vor Wut. „Zeig dich, Buck!“, rief er. „Zeig dich, du Feigling!“

Der Cowboy trat aus der Finsternis und stand Ben vielleicht sechs Schritte entfernt gegenüber. Ein Lichtstrahl fiel von oben direkt auf ihn. Er schien kein Gesicht zu haben. Über seinem Halstuch waren nur zwei Augen zu erkennen, eisblaue Kreise in weißen Schlitzen. Sein Hut schwebte darüber in der Luft.

„Machen wir’s kurz, Cockwood“, zischte Ben. „Ich hab’ gleich noch ’ne Bank auszurauben.“

Der Cowboy nickte und stellte sich in Pose. Seine rechte Hand sank auf das Holster, bereit für das Duell.

Auch Ben legte die Hand auf seinen Revolver.

„Du bist dumm, Woodchuck! Mich verbirgt die Dunkelheit, aber dich kann man bis nach Mexiko leuchten sehen.“

Der Cowboy hob langsam die Hand und machte eine lockende Bewegung. Still, ruhig, aber unmissverständlich: Genug geschwafelt, los jetzt!

Ben verzog keine Miene. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“, knurrte er.

Starr belauerten sich beide. Bereit, beim leisesten Zucken des Gegners als erster zu schießen.

Dann eine leichte Bewegung des Cowboys. Ben reagierte sofort, zog und schoss. Ein weißer Nebel hüllte die Szene ein. Als er sich verzog, war niemand mehr zu sehen.

Nervös sah Ben um sich. Nichts rührte sich. Totenstille herrschte in der Schmiede.

„Hab’ ich dich erwischt!“, triumphierte er. Doch sicher klang er nicht.

Mit lautem Zischen zuckte ein greller Lichtblitz rechts neben Ben auf. Für den Bruchteil einer Sekunde erschien dort der Cowboy im Rauch.

„Du hast mich verfehlt, Ben!“, erschallte die Stimme. „Du hast zum ersten Mal danebengeschossen!“

Ben riss den Colt hoch und schoss in die Dunkelheit, dorthin, wo der Cowboy eben noch stand.

Ein zweiter Lichtblitz, diesmal links. Wieder erschien die Gestalt.

„Du kannst schießen, so viel du willst, Ben“, mahnte die Stimme. „Du wirst mich niemals treffen!“

Ben wirbelte herum und schoss erneut. Dann wich er einen Schritt zurück.

„Willst du weglaufen, Ben?“, höhnte die Stimme von rechts.

„Es wird dir nichts nutzen, Ben“, fuhr sie von links fort. „Ich werde dich überall finden. Überall!“

Wieder von rechts: „Du kannst dich nicht verstecken, Ben! Du bist nirgendwo sicher!“

Dann brach die Stimme in Gelächter aus. Ein wildes, verrücktes Lachen. Es hallte von überall.

Ben schoss panisch um sich, bis sein Revolver nur noch klickte. Doch das Lachen hörte nicht auf.

„Genug!“, kreischte er schließlich. „Ich geb’ auf, Chuck Eastwood! Du hast gewonnen!“

Er warf seine Waffe zu Boden und flüchtete vom Ort seiner Niederlage, rannte geradewegs ins Büro des Sheriffs.

Eine Hand reichte aus der Schmiede, griff nach dem Tor und zog es zu.

Ich lehnte an einem Anbindebalken und wartete auf die Postkutsche, die mich vorgestern hier abgesetzt hatte. Boones Cowboyhut hatte ich mir tief ins Gesicht gezogen. Es schützte angenehm vor der prallen Mittagssonne. Ein leiser Wind blies durch den Ort und wirbelte ein wenig Sand auf.

Ein Junge lief die Straße entlang. Es war Cal.

Ich winkte ihm zu.

Er blieb wie angewurzelt stehen, stutzte. Dann fing er an zu lachen und kam auf mich zugelaufen.

„Sie sind es, Miss Miray!“, rief er überrascht. „Ich hab’ Sie in den Cowboyklamotten gar nicht erkannt.“

„Die stehen mir ausgezeichnet, nicht wahr?“ Ich grinste. „Sie gehörten Boone. Ich habe sie ihm beim Pokern abgenommen. Sind viel bequemer als dieser unpraktische Damenfummel.“

Cal lachte laut. „Beim Pokern? Boone erzählt jedem, fünf Banditen hätten ihm, Zeke und Rudy die Kleider abgezogen. Dann stimmt das gar nicht?“

„Nö“, antwortete ich, „ehrlich gewonnen. Richte Zeke und Rudy aus, sie finden ihre Sachen in der Schmiede. Und Boone, der kann meine Petticoats haben. Die wollte er ja so gerne.“

Cal zupfte an meinem Ärmel.

„Wenn das rauskommt, kann Boone sich mit Matt das Zimmer im Saloon teilen. Wahrscheinlich für immer.“

„Und Bullet Ben?“, fragte ich.

„Der hat sich einsperren lassen. Der Sheriff sagt, so eilig hatte es nicht mal Matt beim Heiraten.“

Cal setzte sich neben mich auf den Balken und schaukelte mit den Füßen. Ich war froh, vor meiner Abreise noch ein paar Minuten mit ihm zu haben. Er war ein treuer Freund und eine große Hilfe.

Ich strich ihm über den Rücken. „Hast du viel Ärger mit Mr. Cobb gehabt?“

Cal zuckte mit den Schultern. „Er hat mich nicht erwischt, aber er hat’s meinem Pa erzählt. Und wissen Sie was? Der hat nur gelacht und gesagt, ich soll mich beim nächsten Mal halt nicht erwischen lassen.“

„Du hast einen coolen Papa!“, bemerkte ich.

Der Junge nickte stumm. Gemeinsam sahen wir die Straße hinab. Ein Hund streunte entlang, hob sein Beinchen an einem Pfosten und verschwand danach hinter einem Haus.

„Dann waren Sie also Chuck Eastwood?“, fragte Cal plötzlich.

Ich nickte langsam. „Enttäuscht?“

Er schüttelte den Kopf. Aufgeregt rückte er näher.

„Wie haben Sie das gemacht, Miss? Es sah aus wie Zauberei!“

Ich sah ihn entsetzt an. „Du warst die ganze Zeit in der Schmiede?“

„Um nichts in der Welt hätt’ ich das Duell verpassen wollen!“

„Aber du hättest verletzt werden können!“

Er winkte ab. „Ich hab mich in ’ner dunklen Ecke versteckt, gleich hinter Ben. Er konnte mich nicht sehen. Aber Chucks Stimme… Die kam von überall!“

„Die Ofenrohre“, erklärte ich. „Ich habe sie versteckt und dann hineingesprochen. Eines für Chuck von rechts, eines von links. Cobb kann sie jetzt zurückhaben. Ich habe mein Wort gehalten: Ich habe sie mir nur für einen Tag geborgt.“

„Aber ich habe Chuck doch auch gesehen! Erst stand er rechts, und dann – zack! – im nächsten Moment links.“

„Das waren zwei Strohpuppen mit den Kleidern von Zeke und Rudy. Für die Blitze habe ich etwas Schwarzpulver vor die Puppen gestreut und angezündet, als es soweit war.“

Cal sah mich enttäuscht an.

„Wenn Sie das so erzählen, klingt’s gar nicht mehr nach Zauberei“, seufzte er. „Aber Ben hat doch auf Sie geschossen, das habe ich selbst gesehen! Und das war ganz sicher keine Strohpuppe, Sie haben sich bewegt.“

„Er hat sogar getroffen!“, sagte ich und blickte in Cals erschrockenes Gesicht. „Aber er traf nicht mich, sondern mein Spiegelbild.“

Der Junge sah mich an, sichtlich verwirrt. Ich schuldete ihm eine bessere Erklärung.

„Hast du schon mal von Pepper’s Ghost gehört?“

Er schüttelte den Kopf.

„Das ist ein Theatertrick. Als ich noch zur Schule ging, habe ich ihn in einer Kiste nachgebaut. Man braucht nur ein helles Licht, eine Glasscheibe als Spiegel und abseits von der Bühne eine Kammer für den Geist, der erscheinen soll.“

„Deshalb das Glas!“, rief Cal verblüfft. „Jetzt versteh’ ich’s!“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Mehr war nicht dabei. Die Schmiede hat hinten eine kleine Nische, in der Jake Schmuck herstellte. Da gibt es oben eine Luke im Dach. Punkt Mittag scheint die Sonne fast senkrecht hinein. Ich musste nur ins Licht treten, und schon erschien Chuck in der Spiegelung. Als Ben schoss, traf er das Glas, nicht mich.“

„Aber Ihr Gesicht… Sie hatten keins! Ihr Hut schwebte über Ihrem Hals!“

„Etwas Fett und Ruß, damit habe ich mein Gesicht geschwärzt. In der Spiegelung sieht man hindurch, als wäre dort nichts.“

„Und der Nebel?“

„Ein bisschen Mehl im Blasebalg. Ich betätigte ihn mit dem Fuß.“

Cals Mund stand weit offen. Er hatte es begriffen.

„Sie haben Bullet Ben besiegt!“, rief er verblüfft. „Und das ganz ohne Schießeisen!“

Ich nickte. „Ja. Alles, was es brauchte, war ein Mythos, der noch größer war als seiner. Solange Ben an Chuck glaubt, bleibt er brav hinter Gittern. Also verrate es niemandem!“

Cal lachte. „Auch das, Miss, würde mir sowieso keiner glauben!“

Eine Staubwolke näherte sich vom anderen Ende der Hauptstraße.

„Da kommt meine Kutsche, Cal“, sagte ich.

Er sah mich traurig an. „Müssen Sie wirklich schon gehen, Miss Miray?“

Ich nickte. „Meine Aufgabe hier ist erledigt. Ich muss wieder nach Hause zurück.“

Ich nahm meinen Cowboyhut ab und setzte ihn Cal auf. Er rutschte ihm über den Kopf, doch er rückte ihn sich zurecht. Eine Träne kullerte über sein Gesicht, als er mich mit seinen schwarzen Augen ansah.

Der Kutscher öffnete die Tür und half mir, in den Wagen zu steigen. Als wir losfuhren, blickte ich noch einmal hinaus. Cal lief der Kutsche hinterher und winkte. Ich winkte zurück. Dann setzte ich mich hin, schmunzelte zufrieden und legte meine Hand auf das Handgelenk.


Ich applaudierte leise. „Das war großartig, Miray!“

Ihr Gesicht verriet mir, dass sie anderer Meinung war. Sie dachte kurz nach.

„Das Problem mit einem Mythos ist, dass er Macht hat. Die Menschen glauben an ihn. Wollen an ihn glauben. Und solange sie das tun, ist er gefährlich. So gefährlich, dass er sogar einen Outlaw besiegen kann.“

Wir waren bereits beim Dessert angekommen, einer Dattel-Schokoladen-Tarte mit Meersalz und Joghurteis.

Ich warf einen Blick zu dem Mann am Nachbartisch. Ob er auch bloß ein Mythos war? Er sah nicht danach aus. Die Aura von Reichtum umgab ihn.

Eine Servicekraft ging mit einem kleinen Tablett auf ihn zu und sprach ihn leise an.

„Was meinen Sie, diese Karte ist auch gesperrt?“, knurrte der Mann. Verärgert nahm er seine Kreditkarte vom Tablett und betrachtete sie sich, als suchte er darauf nach einem untrüglichen Beleg für seine Solvenz.

„Das ist schon die zweite Karte, die nicht geht“, zischte er. „Mit ihrem Gerät muss etwas nicht stimmen!“

Der Mann suchte in seiner Geldbörse und zog schließlich eine Visitenkarte hervor.

„Dann senden Sie mir halt eine Rechnung, verdammt!“

Der Kellner blieb höflich, aber wurde nun ebenfalls hörbar. „Das machen wir grundsätzlich nicht, Sir. Wenn Sie keine Zahlungsmittel vorweisen können, möchte ich sie freundlich bitten, mich zum Management zu begleiten, um die Angelegenheit zu klären.“

Die Stimme des Mannes wurde schriller, sein Tonfall drohender. Andere Gäste drehten sich bereits um, beobachteten die Szene und schüttelten empört die Köpfe.

Der Maître kam hinzu. Sein Gesichtsausdruck war nach wie vor freundlich, aber bestimmt. Er flüsterte ihm etwas zu. Diskret, aber unmissverständlich. Der Mann wurde blass, stand auf und folgte ihm. Sie verließen den Raum, während der Kellner die Sachen einsammelte, die er am Tisch zurückgelassen hatte.

Verblüfft sahen Miray und ich uns an. Dann schmunzelte sie und nickte dezent in die Richtung des Tisches.

„Mythos“, sagte sie. „Hart, wenn die anderen es durchschauen.“

Der Maître kam zu uns, sichtlich bemüht, eine professionelle Haltung zu wahren. Er fragte, ob wir noch einen Wunsch hätten.

„Ich denke, es wird Zeit zu gehen“, antwortete Miray freundlich.

Der Maître nickte. „Ich hoffe, wir durften Ihnen im Namen von Mr. Nasser einen angenehmen Abend bereiten.“

„Das haben Sie“, antwortete ich. „Bitte richten Sie ihm unseren Dank für seine großzügige Einladung aus!“

„Mit Vergnügen, Sir! Ich gebe Ihren Dank gerne weiter.“

Wir standen auf und verließen den Tisch. Ich bot Miray meinen Arm an. Für einen Moment zögerte sie. Dann hakte sie sich ein und begleitete mich.

„Möchtest du vielleicht doch einmal kurz die Aussicht genießen?“, fragte ich und deutete zum Panoramafenster.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich denke, es gab schon genug Aufsehen für heute“, flüsterte sie mir zu. „Wir sollten nicht auch noch eine Panikattacke obendrauf setzen!“

Langsam schlenderten wir zum Aufzug und stiegen ein. Die Türen schlossen sich und die Kabine fuhr abwärts.

„Es war ein schöner Abend mit dir, Miray“, bedankte ich mich.

Sie nickte. Dann sah ich tief in ihre eisblauen Augen. Sie hielt meinem Blick stand, aufmerksam, gespannt. Und plötzlich hatte ich Schmetterlinge im Bauch.

„Ich weiß nicht, ob…“, begann sie. Ihre Stimme war verlegen, ausweichend.

Behutsam legte ich meinen Finger auf ihre Lippen. Sie wollte keine Beziehung, das wusste ich. Aber nach diesem Abend konnte ich sie auch nicht gehen lassen, als wären wir bloß Freunde. Also beugte ich mich langsam zu ihr und küsste sie auf die Wange.

Sie starrte mich an.

„Was?“, fragte ich überrascht.

„Das war’s schon?“, protestierte sie. „Kein Wunder, dass du noch Single bist, Dian.“

Ich wollte etwas erwidern, mich rechtfertigen, als Miray ihre Arme um mich legte und mich fest an sich drückte. Unsere Nasen berührten sich. Sie schloss die Augen. Und dann küssten wir uns, leidenschaftlich, innig, ohne zu zögern.

Einen Moment lang blieb sie dicht bei mir, den Kopf an meine Schulter gelehnt.

„Ich hasse das“, murmelte sie.

„Was?“

Sie sah mich an.

„Dass es sich so gut anfühlt, und doch so falsch ist.“

Eine mechanische Stimme kündigte an, dass der Aufzug gleich die Lobby erreichte.

„Es ist soweit“, sagte Miray, stellte sich aufrecht hin und strich ihr Kleid glatt. „Bis zum nächsten Abenteuer, Dian.“

Ein letztes Mal sah ich sie an. Am liebsten hätte ich sie einfach mitgenommen, mit zur Liegewiese des Freibads, wo mein anderes Ich auf einem Strandtuch lag und döste.

Ich seufzte leise. „Ja… Bis zum nächsten Abenteuer, Miray.“

Dann berührten wir unsere Tattoos, und das endlose Nichts brachte mich zurück. Alleine.

Episode 5 „Kiona Bluff“ v1.0 vom 2. August 2025