Eine geöffnete Vitrine, darinnen ein großer Aquamarin und ein fuchsroter rechter Samthandschuh.
1

Träne der Wüste

Episode:
1
Version:
V2.3
Veröffentlicht am:
Letzte Änderung:
Länge:
8.300 Wörter
Lesedauer:
39 Minuten
Auto-Lesezeichen:
aktiv inaktiv
Unterwegs lesen…

QR-Code zu dieser Seite

V2.3 – 10. Juni 2025
Grammatikfehler korrigiert
V2.2 – 9. Juni 2025
Satzbaufehler korrigiert
V2.1 – 9. Mai 2025
Rechtschreibfehler korrigiert
V2.0 – 3. Mai 2025
Neufassung, stilistisch vollständig überarbeitet
V1.6 – 22. Januar 2025
Rechtschreibkorrekturen
V1.5 – 20. September 2024
Rechtschreibkorrekturen
V1.4 – 11. Juli 2024
Miray kann nicht wissen, dass auf der anderen Seite der Tür Charpentier Wache hält.
V1.3 – 17. Juni 2024
Rechtschreibkorrekturen
V1.2 – 20. Mai 2024
Kleinere stilistische Korrekturen
V1.1 – 16. Mai 2024
Vor dieser Änderung konnte Martens nicht wissen, wer die Personen sind, die ihn auffordern, seinen Koffer zu öffnen.
V1.0 – 11. Mai 2024

Träne der Wüste

Vielleicht war es nur ein Traum. Vielleicht auch nicht. Aber es war unglaublich genug, dass ich es festhalten musste.

Mein Abenteuer begann an einem Freitagabend. Ich warf noch einen raschen Blick in die Werkstatt des Autohauses, bevor ich meine Tasche nahm und das Licht abschaltete.

Auf dem Parkplatz erwischte mich mein Chef und winkte mich zu sich.

„Dian, Junge! Mir ist aufgefallen, dass du in den letzten Tagen lange gearbeitet hast. Hast du keine Familie, die zu Hause auf dich wartet?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin Single. Wieso, hast du Interesse?“

Er lachte laut auf und wackelte mit dem Ring an seinem Finger. „Ich bin schon in festen Händen, sorry! Aber Spaß beiseite: Du siehst abgespannt aus. Ruh dich mal richtig aus. Ich will dich am Montag nicht vor zehn Uhr in der Werkstatt sehen!“

Das Angebot nahm ich dankend an. Es war tatsächlich eine harte Woche. Nun freute ich mich auf nichts mehr als auf einen riesigen Döner, ein heißes Bad, ein wenig Fernsehen, dann ins Bett fallen und ausschlafen.

Der Plan ging fast auf. Doch gesättigt vom Döner und entspannt vom heißen Bad fielen mir schon auf der Couch vor dem Fernseher die Augen zu.

Ein beißender Geruch weckte mich aus meinem Schlummer. Ein Geruch von altem Urin und verbranntem Holz. Das Zimmer schaukelte sanft unter dem Geräusch eines gleichmäßigen Ratterns. Es heulte die Pfeife einer Dampflokomotive.

Schlaftrunken öffnete ich die Augen und fand mich auf einer Toilette sitzend wieder. Durch ein mattiertes Fenster fiel Tageslicht in die enge und schmucklose Kabine, in der ich mich befand. Die Einrichtung war völlig aus der Zeit gefallen. Die Wände waren holzvertäfelt. Gegenüber dem Fenster hing ein schlichter, mit Flecken gesprenkelter Spiegel an der Wand. Darunter war ein kleines, emailliertes Waschbecken angebracht. Ein weiß lackiertes Rohr führte von der Decke am Spiegel vorbei und endete an einem kleinen Wasserhahn. An einem Haken an der Tür hing das weiße Jackett einer Uniform nebst der dazu gehörenden Mütze.

Ungläubig schüttelte ich meinen Kopf. „Das muss ein Traum sein“, murmelte ich.

Aber es fühlte sich nicht an wie ein Traum. Mein Verstand war hellwach, mein Umfeld real. Ich konnte alles sehen, hören, spüren, leider sogar riechen.

Ein lautes Hämmern an der Tür. „Lacombe, was ist los, sind Sie da drinnen eingeschlafen?“, rief eine energische Männerstimme. „Wir haben Gäste, die auf Sie warten!“

Lacombe? Wieso Lacombe?

„Sie müssen mich mit jemandem verwechseln“, entgegnete ich.

Die Antwort kam prompt.

„Werden Sie nicht frech, Lacombe! Ich höre doch, dass Sie es sind.“

Der Mann rappelte an der Türklinke, doch die Tür war von innen verriegelt. Darauf hämmerte er noch energischer. Das Schloss knackte laut, eine der Schrauben fiel heraus.

Ich hielt es für besser, das Spiel mitzuspielen. Hier drinnen war ich ganz klar in der schlechteren Position.

„Ist gut, ich bin ja gleich da!“, rief ich empört zurück.

Der Mann hörte auf zu hämmern. Er knurrte noch ein paar unverständliche Worte, dann entfernte er sich.

Ich atmete tief durch. Die Gefahr war gebannt. Erstmal. Eilig zog ich mir die Hose hoch und betätigte die Spülung. Ein wenig Wasser gurgelte träge aus dem Kasten an der Decke und lief durch die Schüssel.

Danach wusch ich mir die Hände. Der Mann, der mich auf der anderen Seite des Spiegels ansah, war eindeutig ich, mit meinen braunen Haaren, die zu einem fülligen Seitenscheitel frisiert waren, meinen haselnussbraunen Augen und meinem gepflegten Drei-Tage-Bart. Das weiße Hemd an meinem Körper, das sorgfältig gebügelt und gestärkt war, konnte dagegen unmöglich mir gehören.

Ich betrachtete das Jackett am Haken. Es war ebenfalls weiß und besaß eine Knopfreihe mit goldenen Knöpfen. Der Schnitt war nicht modern, aber die Kleidung sah nagelneu aus und war von guter Qualität. Am Revers steckte ein kleines messingfarbenes Schild, es trug meinen falschen Namen.

Ich zog das Jackett an, es passte mir perfekt. Ebenso die Mütze, welche in glänzenden Lettern die Worte „Wagon Restaurant“ trug.

Zaghaft entriegelte ich die Tür und öffnete sie einen Spalt. Dahinter befand sich der Einstiegsbereich eines Zugwaggons.

Vorsichtig wechselte ich in den nächsten Wagen. Dort erwartete mich bereits ein älterer und korpulenter Herr in dunkelblauer Uniform. Auf seinem Namensschild stand Monsieur Moreau. Eine doppelte Knopfreihe und die Form seiner Schirmmütze deuteten an, dass er einen höhergestellten Rang als ich bekleidete. Es musste der Mann sein, mit dem ich eben das zweifelhafte Vergnügen hatte, wie sein cholerisch rotes Gesicht mir verriet.

Als er mich bemerkte, blies er sich auf wie ein Kugelfisch. „Konnten Sie endlich Ihre Sitzung beenden, Lacombe?“, donnerte er. „Am Tisch warten Gäste auf Ihren Service. Los, los!“

Mit seinen riesigen Händen kehrte er mich in einen schmalen, mit edlem Teakholz getäfelten Gang. Ich durchschritt ihn und erreichte einen Speisebereich, der genauso altmodisch eingerichtet war wie scheinbar alles in diesem Zug. Purpurrote Vorhänge hingen an den Fenstern, vor denen gedeckte Tische mit weißen Tischdecken, gefalteten Servietten und kleinen Vasen mit bunten Blumen darin aufgestellt waren. Schwere, mit beigem Leder bezogene Stühle warteten auf Gäste.

An einem Tisch saß ein Paar. Er trug einen klassischen Anzug, sie eine weiße Bluse und einen Hut, der zwar elegant, aber völlig aus der Zeit gefallen wirkte. Als der Mann mich sah, winkte er mich ungehalten zu sich. Er bestellte zwei Kaffee und die Tageszeitung.

Während meiner Ausbildung zum Mechaniker hatte ich einen Ferienjob als Kellner in einem Café, um mein Konto aufzubessern. Das half mir nun, mich schnell in meiner sonderbaren Rolle zurechtzufinden. Ich ging in die Küche, orderte beim Koch den gewünschten Kaffee und fragte nach der Tageszeitung.

„Die werden wir erst in Belgrad an Bord nehmen“, erklärte er, während er zwei Tassen auf ein Tablett stellte, eine riesige Kanne von einer Herdplatte nahm und den Kaffee eingoss.

Ich zog eine Augenbraue hoch. Belgrad war nicht gerade in der Nähe des Ortes, an dem ich vorhin noch vor der Glotze lag und meine Hand in eine Chipstüte steckte.

Er bemerkte meinen Blick. „Wir werden etwa um halb fünf dort ankommen“, schob er hinterher.

An meinem Handgelenk fand ich eine altmodische, schlichte Armbanduhr, die vier Uhr fünfundzwanzig zeigte.

„Oh, das ist ja schon in fünf Minuten!“, stellte ich fest.

Der Koch sah erschrocken auf seine eigene Uhr. Dann fing er an zu lachen. „Lacombe, Sie haben vergessen, Ihre Uhr hinter Sofia um eine Stunde zurückzustellen.“

Ich nahm das Tablett und trug es an den Platz. Während ich den Kaffee servierte, teilte ich dem Mann mit, dass er auf seine Zeitung noch eine gute Stunde warten müsse. Er knurrte kurz, bevor er mir unter dem strengen Blick seiner Frau eine kleine Münze als Trinkgeld in die Hand drückte.

Als unser Zug in Belgrad einfuhr, stand die Sonne bereits tief hinter dem Horizont. Passagiere stiegen aus und ein, Gepäck und Fracht wurden verladen, während die Lok an das andere Ende des Zuges gekoppelt wurde.

Exakt zehn Minuten später rollte unser Zug wieder aus dem Kopfbahnhof heraus. In der Küche liefen die Vorbereitungen für das Dîner auf Hochtouren.

Ich war gerade dabei, einer Reisegruppe ihre Apéritifs zu bringen, als mich zwei Herren abfingen und zur Seite nahmen. Auf den ersten Blick sahen sie wie gewöhnliche Passagiere aus, bis sie mir unauffällig ihre Abzeichen zeigten und sich als Inspektor Reynaud von der Sûreté und Lieutenant Barnes von Scotland Yard vorstellten.

Reynaud bat mich, sie zum Chef de Brigade zu führen. Ich nickte und brachte sie in die Küche, wo Moreau gerade den Koch zur Schnecke machte.

Als er mich mit den beiden Herren bemerkte, bäumte er sich vor mir auf. „Fahrgäste haben hier nichts verloren, Lacombe!“

Ich schüttelte den Kopf. „Diese beiden Herren sind von der Polizei und möchten zum Chef de Brigade“, rechtfertigte ich mich. „Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?“

Moreau machte für einen Augenblick ein Gesicht, als ob er einen Korken verschluckt hätte. Dann donnerte er los: „Lacombe! Wer zum Teufel glauben Sie, steht vor Ihnen?“

Inspektor Reynaud trat nach vorne, zeigte Moreau seinen Dienstausweis und stellte sich und seinen Kollegen vor. Dann erklärte er den Grund seines Besuchs.

„Wir vermuten, dass sich ein Dieb in diesem Zug befindet, der in Konstantinopel einen wertvollen Aquamarin gestohlen hat.“

Ich musste kichern. „Konstantinopel? Sie meinen Istanbul!“

Schlagartig verstummten alle und sahen mich an, als hätte ich gerade behauptet, dass Schildkröten fliegen können.

Dann packte Moreau mich am Arm und zerrte mich zur Seite. „Ich weiß nicht, was plötzlich in Sie gefahren ist, Lacombe. Aber noch eine weitere Dummheit, und ich werde dafür sorgen, dass das Ihre letzte Fahrt für die Compagnie war.“

Reynaud räusperte sich und sah uns streng an, bevor er seine Ansprache fortsetzte. „Unglücklicherweise ist nicht bekannt, wie der Dieb aussieht. Wir möchten das Personal bitten, uns alles Verdächtige umgehend und diskret zu melden. Der Dieb ist möglicherweise bewaffnet, seien Sie also vorsichtig und spielen Sie nicht den Helden!“

Moreau versprach, das übrige Personal in Kenntnis zu setzen. Reynaud bedankte sich. Dann führte ich die beiden Polizisten an einen freien Tisch im Restaurant, von dem aus sie den Wagen gut überblicken konnten.

Ich verzog mich in eine abgelegene Ecke und riskierte einen Blick zurück in das Restaurant, um sicherzustellen, dass Moreau mich hier nicht sehen konnte. Am Anfang fand ich diesen Traum noch ganz amüsant, eine interessante Abwechslung zu dem, was man sonst so nachts träumt. Aber er zog sich nun schon über mehr als eine Stunde hin, und Moreaus Gemeinheiten wurden auch immer unerträglicher. Ich rieb mir den Arm, der von seiner letzten Ansprache immer noch schmerzte. Gerne wäre ich wieder aufgewacht, doch es gelang mir nicht. Ich schien ein Gefangener dieser fremdartigen Welt zu sein.

Ein Mann in Uniform der Bahngesellschaft kam auf mich zu. Seine Plakette verriet mir, dass er Monsieur Charpentier hieß, und seine Mütze, dass er Conducteur war. Sein Gesicht war hager und von tiefen Falten durchzogen. Über seinen schmalen Lippen trug er einen breiten grauen Schnurrbart, den er sorgfältig pflegte. Er sah mich ernst an, und es schien mir fast so, als ob das sein einziger Gesichtsausdruck war.

„Lacombe“, sprach er langsam, „im hinteren Gepäckwagen sind die Tageszeitungen, die wir in Belgrad bekommen haben. Bitte verteile sie an die Passagiere in den Abteilen und im Restaurant.“

Ich nickte und machte mich sofort an die Arbeit.

Der Zug setzte sich aus einer Dampflokomotive und sechs Wagen zusammen, wie ich feststellte. In jenem Gepäckwagen, der in Belgrad an die Lok gekoppelt und so zum vorderen Wagen wurde, begann meine Reise. Es folgten der Restaurantwagen und drei Schlafwagen, bevor der Zug mit einem weiteren Gepäckwagen abschloss. Dort fand ich tatsächlich einen Stapel Zeitungen, mit einem Band sorgfältig zu einem Paket geschnürt. Ich entfernte das Band, nahm die Zeitungen an mich und begann, der Reihe nach an den Abteiltüren zu klopfen.

Die meisten Passagiere waren nicht interessiert oder öffneten gar nicht erst. Als ich das Abteil 10 erreichte, stand ich erneut dem Mann von heute Nachmittag gegenüber.

„Das wurde aber auch Zeit!“, knurrte er, während er mir ein Exemplar des Daily Telegraph aus der Hand riss.

„Darling“, hörte ich seine Frau aus dem Hintergrund, „der Serveur kann nichts dafür, dass die Zeitung erst in Belgrad den Zug erreicht.“

Er sah mich grimmig an, nickte kurz und schlug die Abteiltür vor meiner Nase zu.

Ich seufzte und zog weiter. Schließlich klopfte ich an die Tür von Abteil 3. Eine junge Frau öffnete mir. Sie trug eine schlichte, aber elegant bestickte blaue Bluse mit langen Ärmeln, die ihre Figur betonte und in einen weiten, bodenlangen Rock überging. Der kleine Hut auf ihrem Kopf entsprach dem Stil ihrer Kleidung. Dennoch wirkte ihr Outfit auf mich wie ein Theaterkostüm, denn ihre hellblonden Haare, die zu einer frechen Pixiefrisur mit blauen Strähnchen gestylt waren, wollten nicht dazu passen.

Sie war allein in dem Abteil, und ich fragte mich unwillkürlich, was sie in diesen Teil der Welt verschlagen haben mochte.

Die Frau hob eine Augenbraue. „Passiert noch etwas, oder muss ich erst eine Münze einwerfen?“

Ich bemerkte, dass ich sie die ganze Zeit anstarrte wie ein Idiot. Verlegen räusperte ich mich.

„Möchten Sie den Daily Telegraph?“

„Das kommt darauf an… Ist es die Zeitung von heute?“

„Auf jeden Fall ist sie druckfrisch!“ Genervt sah ich auf meine Finger voller Druckerschwärze. „Welches Datum haben wir?“

Nun hob sie auch die andere Augenbraue. „Es ist der 16. März, nicht wahr?“

Ich fand das Datum auf der Zeitung. Dort stand der 15. März, also war sie von gestern.

Dann las ich weiter. Und las noch einmal. Ich konnte nicht glauben, was dort schwarz auf weiß stand.

Mein Magen zog sich zusammen. Mir wurde schwindelig. Die Zeitungen rutschten mir aus der Hand und fielen auf den Boden. Ich sah in das Gesicht der Frau, es schien meterweit weg zu sein. Ich wollte sprechen, aber meine Lunge verkrampfte.

Bevor ich stürzen konnte, hielt sie mich fest und zog mich mit unerwarteter Kraft auf den Sitz ihres Abteils.

„Was haben Sie?“, fragte sie besorgt. „Sie sehen aus, als hätten Sie gerade ein Gespenst gesehen!“

„Das Jahr“, stammelte ich und deutete auf die Zeitungen. „Da steht das Jahr 1909! Das hier ergibt alles keinen Sinn!“

Sie riss die Augen auf. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Nach diesem peinlichen Auftritt musste sie mich für völlig übergeschnappt halten.

Ich atmete tief durch und versuchte, meine Fassung wiederzufinden. Rasch entschuldigte ich mich und wollte aufstehen, aber sie zog mich wieder auf den Sitz zurück.

„Bitte zeigen Sie mir Ihr linkes Handgelenk!“, forderte sie mich auf.

Es war ein sonderbarer Wunsch, aber was war an diesem Traum nicht sonderbar? Zaghaft schob ich meinen Ärmel hoch und präsentierte ihr meinen Unterarm. Sie griff nach meiner Armbanduhr und zog sie aus.

Es kamen zwei parallele, schwarze Striche zum Vorschein, die auf mein Handgelenk tätowiert waren.

„Was ist das?“, fragte ich entsetzt. „Wo kommt dieses Tattoo her?“

Ich versuchte, die Striche wegzuwischen, jedoch ohne Erfolg. Sie sahen so aus, als ob sie schon immer dort gewesen wären und mich auch den Rest meines Lebens begleiten würden.

Die Frau warf einen schnellen Blick auf den Gang, dann sammelte sie eilig die Zeitungen vom Boden auf und schloss die Abteiltür.

Sie sah mich an, und für einen Moment schien sie zu zögern. Dann fragte sie: „Du glaubst, das hier ist so etwas wie ein Traum, nicht wahr? Aber alles scheint so real, und du kannst nicht aufwachen.“

Ich riss die Augen auf. „Woher wissen Sie das?“

Sie schob ihren linken Ärmel hoch. Auf ihrem Handgelenk war das gleiche Symbol zu sehen.

„Es ist schön, endlich einen Gefährten zu treffen“, sagte sie und grinste breit. „Ich heiße Miray. Und du bist Lacombe?“

Sie deutete auf mein Namensschildchen.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich heiße ich Dian. Hattest du schon öfter solche Träume?“

Miray verzog ihren Mund. „Einige! Vor ein paar Monaten fingen sie an.“

„Wie hast du es geschafft, wieder aufzuwachen?“

„Das gelang mir erst, nachdem ich eine Aufgabe gelöst hatte.“

Ich stutzte. „Eine Aufgabe? Was für eine Aufgabe?“

„Jedes Mal eine andere. Die Hinweise sind in den Träumen versteckt. Ich musste sie finden und zusammenfügen.“

Ich sah auf mein Handgelenk. Zwei Striche und zwei träumende Personen, das hing sicherlich zusammen.

„Vielleicht war es deine Aufgabe, mich zu finden?“

Miray schüttelte den Kopf und deutete auf ihr Tattoo. „Wenn die Aufgabe erfüllt ist, erscheint ein grüner Kreis. Erst dann kann ich aufwachen.“

Nachdenklich sah ich aus dem Fenster. Draußen zog eine karge, mediterrane Landschaft vorbei, in der sich Felder, Weiden und Wäldchen abwechselten. Die Sonne war längst hinter einer Bergkette am Horizont verschwunden und tauchte die Wolken am Himmel in ein sattes pinkfarbenes Abendrot.

„Wo sind wir eigentlich?“, fragte ich.

„Die letzte Station hieß Zimony, die davor Belgrad. Wenn ich in der Schule gut aufgepasst habe, fahren wir also durch das Königreich Serbien.“

„Und was ist das für ein Zug?“

„Ein Zug der Compagnie Internationale des Wagons-Lits, auf dem Weg von Konstantinopel nach Paris.“

Ich kniff meine Augen zusammen. „Compagnie Internationale…“

„…des Wagons-Lits, besser bekannt als Orient-Express.“

„Bei Klassenarbeiten saß man immer gerne neben dir, nicht wahr? Aber woher wusstest du, welcher Tag heute ist?“

Miray öffnete eine kleine Handtasche, zog einen Zettel heraus und reichte ihn mir. Es war eine Fahrkarte der Compagnie, gültig für eine Fahrt von Sofia nach Paris und entwertet am 16. März 1909.

Sie schmunzelte. „Hast du geglaubt, ich reise ohne Billett?“

Verlegen rieb ich mir den Hinterkopf. „Und jetzt?“, fragte ich. „Wie finden wir heraus, welche Aufgabe wir erfüllen müssen?“

„Ich hoffte, in der Zeitung einen Hinweis zu finden.“

Miray nahm einen Daily Telegraph vom Stapel und begann, die Schlagzeilen zu überfliegen. Es dauerte nicht lange, da hielt sie mir schon einen Artikel unter die Nase.

„Berühmter Aquamarin gestohlen!“, las ich vor. „Bei einem spektakulären Einbruch wurde in Konstantinopel am vergangenen Sonntag der legendäre Aquamarin Träne der Wüste aus dem hochgesicherten Topkapı-Palast entwendet. Der Dieb befindet sich auf der Flucht nach London, eine internationale Fahndung ist bereits in vollem Gange. Alle Verkehrswege aus der Stadt werden von der Polizei überwacht.“

Ich nickte. „Richtig, in Belgrad stiegen zwei Polizisten in Zivil ein, die nach dem Dieb suchen.“

Miray klatschte vor Freude. „Ein Dieb auf der Flucht, Undercover-Polizisten im Zug, da haben wir unser Abenteuer! Haben die Polizisten ein Foto oder eine Beschreibung von ihm?“

„Leider nein. Sie sagten, niemand weiß, wie er aussieht.“

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. „Das wird nicht leicht. Der Dieb wird uns kaum verraten, dass er es ist.“

Grübelnd starrten wir aus dem Fenster. Wenn wir hier nicht für immer festhängen wollten, musste eine Idee her, wie wir den Dieb entlarven können. Aber mir wollte nichts einfallen.

Miray deutete auf meine Dienstkappe. „Was ist eigentlich dein Job?“

„Du meinst, außer meinem Chef das Leben zur Hölle machen?“ Ich lächelte verlegen. „Ich bin Serveur, ein Kellner im Restaurantwagen.“

„Das bringt mich auf eine Idee!“, sagte Miray und grinste breit.

Draußen war es bereits dunkel, als der Express den Bahnhof der serbischen Stadt Subotica verließ und sich auf den Weg zur ungarischen Grenze begab. Auf dem Fahrplan stand, dass wir unsere nächste Station Budapest erst in drei Stunden erreichten. Für die Passagiere gab es nichts weiter zu tun, als den Luxus an Bord zu genießen. Die wenigen Fahrgäste, die am letzten Halt zugestiegen waren, richteten sich noch in ihren Abteilen ein, während die anderen im Salon des Speisewagens einen Apéritif zu sich nahmen oder essen gingen.

Miray hatte sich für den Abend fein gemacht. Ich brachte sie an einen Tisch für zwei Personen in einer Ecke, von der aus sie alles überblicken konnte.

Unser Plan war, allein reisende Herren, die uns suspekt vorkamen, an ihren Tisch zu lotsen. Miray würde dann versuchen, mit Smalltalk mehr über sie zu erfahren. Wie sich herausstellte, benötigten die Herren keinen Vorwand, um ihr Gesellschaft leisten zu dürfen. Einer nahm mich sogar zur Seite und stopfte mir dezent einen Geldschein in meine Reverstasche, damit ich ihn an ihren Tisch brachte.

Währenddessen ging ich weiter meiner Arbeit nach, nahm Bestellungen entgegen und servierte Speisen und Getränke. Beinahe hatte ich vergessen, in welcher sonderbaren Situation ich mich befand. Stattdessen bemerkte ich einen großen Vorteil meiner Rolle. Die meisten Gäste beachteten mich nicht und plauderten, während ich neben ihnen am Tisch stand und so tat, als würde ich nicht zuhören.

Auch Inspektor Reynaud und Lieutenant Barnes hatten unauffällig an einem der Tische Platz genommen. Ich servierte ihnen einen Kaffee und nutzte dann die Gelegenheit, um in dezentem Abstand zu warten und ihr Gespräch zu belauschen.

Sie unterhielten sich über den Einbruch. Der Dieb nutzte wohl die Gelegenheit, dass in dem Palast Baumaßnahmen stattfanden. Er hatte eine der Wachen weggelockt, um unbemerkt in das Gebäude zu gelangen. Als er den Edelstein stahl, löste er zwar einen Alarm aus, aber als die Wachleute eintrafen, fanden sie nichts weiter vor als eine zerschlagene Vitrine, in der statt des Steins ein fuchsroter rechter Samthandschuh lag.

Dieser Handschuh, so erklärte Barnes es seinem Kollegen, war das Markenzeichen des berüchtigten englischen Meisterdiebes Velvet Fox. Er trieb bereits in etlichen europäischen Großstädten sein Unwesen. Nun erweiterte er seinen Radius in den Orient. Scotland Yard versuchte schon lange, ihn zu schnappen, bisher ohne Erfolg.

Eine junge Frau tippte mir auf die Schulter und bat mich, ihr Sandwiches mit Lachs und Kapern in ihr Abteil zu bringen. Eine recht exotische Wahl, dachte ich, aber der Koch nickte völlig unbeeindruckt und stellte es rasch zusammen. Als ich ihr den Imbiss gebracht hatte und wieder auf dem Weg zurück in den Speisewagen war, kam mir Miray auf dem Gang entgegen. Sie sah müde aus.

„Wie lief es bisher mit deinen drei Herren?“, fragte ich neugierig.

Sie seufzte. „Nicht gut. Der erste war ein Bankier. Er stinkt vor Geld und teuren Zigarren, und hat es sicher nicht nötig, Edelsteine zu stehlen. Danach saß ein Vertreter für Maschinenteile an meinem Tisch, der geschäftlich in Belgrad zu tun hatte und mir alles über seine patentierten Nockenwellen erzählte. Ich glaube nicht, dass er Interesse an irgendetwas anderem hat.“

„Und der dritte?“

„Der erwartet mich nachher zu einem intimen Tête-à-Tête in seinem Abteil. Wie es aussieht, plant er bereits unsere Hochzeit.“

„Na, da gratuliere ich doch herzlich“, bemerkte ich sarkastisch.

Sie schmunzelte verschmitzt. „Ich kann ihn dir gerne vorstellen! Vielleicht hat er ja eine Schwester, die genauso nervtötend ist wie er.“

Mit diesen Worten ließ sie mich stehen. Ich sah ihr nach, wie sie den Gang entlangging und am Ende abbog. Dann schüttelte ich meinen Kopf, konnte mir aber ein breites Grinsen nicht verkneifen. Ihre freche Art kitzelte etwas in mir.

Gegen zweiundzwanzig Uhr leerte sich der Speisewagen. Ein junges Paar saß noch an einem der Tische. Sie sahen sich verliebt an und tuschelten miteinander, während sie in ihrem Dessert stocherten. Von einem anderen Tisch erschallte ein lautes Gelächter. Vier Geschäftsleute feierten vermutlich einen guten Abschluss und waren gerade dabei, die fünfte Flasche Champagner zu leeren.

Die Tür zum Restaurant öffnete sich und ein älterer, aber sportlich wirkender Mann mit dicker Hornbrille und Schnurrbart trat ein. Er war so groß, dass er seinen Kopf ein wenig neigen musste, um nicht an den Türrahmen zu stoßen.

„Sie können an dem Tisch dort hinten bei der Mademoiselle Platz nehmen“, empfing ich ihn und deutete auf Mirays Tisch.

Er sah sich kurz um und setzte sich wortlos an einen leeren Tisch gleich neben der Tür.

„Wie Sie wünschen, Monsieur“, bemerkte ich trocken und reichte ihm das Menü des Abends. Er überflog es kurz und nickte bloß.

Als ersten Gang servierte ich ihm eine Consommé. Ich wünschte ihm einen guten Appetit und wollte gerade gehen, als ich auf etwas trat. Es war ein Abteilschlüssel.

Ich hob ihn auf.

„Ist das Ihr Schlüssel, Monsieur?“

Er nickte nur, nahm den Schlüssel an sich und steckte ihn ein. Dann sah er mich an.

„Noch was?“, knurrte er leise.

Ich schüttelte hastig den Kopf, murmelte eine Entschuldigung und machte mich auf den Weg zurück in die Küche.

An Mirays Tisch hielt ich und tat so, als würde ich ihre Bestellung aufnehmen.

„Was für ein unfreundlicher Typ“, raunte ich ihr zu.

Unauffällig sah sie in die Richtung, aus der ich kam.

„Der Lulatsch am anderen Ende des Wagens?“

„Genau. Er ist gereizt und nicht sehr gesprächig. Außerdem… Schau dir seine Brille an! Als würde er sein Gesicht dahinter verstecken.“

Miray musterte ihn einen Moment, doch sie zögerte.

„Er wollte sich auch nicht zu dir setzen“, fügte ich hinzu.

„Das ist wirklich höchst verdächtig!“ Sie kicherte leise. „Aber irgendwas stimmt tatsächlich nicht mit ihm. Wir sollten die Gelegenheit nutzen und sein Abteil durchsuchen, solange er hier ist. Kannst du die Nummer herausfinden?“

Ich grinste.

„Schon erledigt. Es ist Abteil 26. Er hatte vorhin seinen Schlüssel am Tisch verloren.“

Sie sah mich begeistert an und hielt mir ihre Hand hin.

„Ich habe ihn natürlich zurückgegeben.“

Miray seufzte theatralisch. „Ausgerechnet jetzt musst du versuchen, Mitarbeiter des Monats zu werden. Du hast selbst keinen Schlüssel zu den Abteilen?“

„Ich bin nur ein einfacher Serveur, Mademoiselle“, spielte ich entrüstet. „Aber ich weiß, wer uns hineinlassen kann. Treffen wir uns im hinteren Schlafwagen!“

Unauffällig verließ ich das Restaurant. Am Zugang zum hinteren Schlafwagen blieb ich stehen und wartete auf Miray, die wenige Augenblicke später folgte.

Ich deutete auf Charpentier, der am anderen Ende des Gangs auf einem Klappsitz saß und gelangweilt aus dem Fenster starrte.

„Charpentier ist der Conducteur des Zuges“, flüsterte ich ihr zu. „Er hat sicher einen Hauptschlüssel und könnte uns aufschließen.“

„Nur wird er das kaum ohne guten Grund tun“, flüsterte sie zurück.

„Lass mich das machen“, sagte ich und deutete Miray an, hier zu bleiben. Dann ging ich los. Ich hatte eine Idee, aber keine Ahnung, ob Charpentier mitspielen würde.

Als er mich bemerkte, setzte er sich aufrecht hin und rückte sich die Mütze zurecht.

„Was wollen Sie, Lacombe?“, fragte er mit einem genervten Unterton.

„Der Monsieur aus Abteil 26 hat seine Brieftasche liegen lassen und mich gebeten, sie für ihn zu holen. Könnten Sie mir die Tür öffnen?“

Charpentier zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und blätterte kurz darin. „Das ist das Abteil von Monsieur Martens“, stellte er fest. „Hat er Ihnen seinen Schlüssel nicht gegeben?“

„Nein. Und Monsieur Martens hat keine besonders gute Laune. Ich möchte lieber nicht mit leeren Händen zurückkehren und danach fragen.“

Charpentier stöhnte, erhob sich schwerfällig aus seinem Sitz und schloss das Abteil auf. Dann ließ er mich hinein, blieb jedoch in der Tür stehen und beobachtete mich misstrauisch.

Ich sah mich kurz um. An einem Kleiderhaken hing ein Trenchcoat und auf der Couch lag ein kleiner Koffer. Mehr war auf den ersten Blick nicht zu entdecken, aber mit dem Conducteur im Rücken konnte ich unmöglich gründlicher suchen.

„Wie lange brauchen Sie noch, Lacombe?“, drängelte er.

„Seltsam! Der Monsieur sagte, seine Brieftasche liegt auf dem Tisch, aber da ist sie nicht.“

„Dann hat er sie möglicherweise doch bei sich. Nun kommen Sie endlich!“

Ich musste es irgendwie schaffen, meinen Wachhund loszuwerden, aber mir fiel nichts ein.

Da erschien Miray plötzlich im Türrahmen.

„Pardon“, sprach sie Charpentier an, „können Sie hinten nach der Toilette schauen? Das Licht funktioniert nicht.“

„Das muss jetzt warten“, brummte er und versuchte, sie abzuwimmeln.

„Das kann nicht warten“, protestierte sie empört.

„Sie sehen doch, dass ich beschäftigt bin!“

Miray zuckte mit den Schultern. „Nun, dann werde ich wohl den Chef de Brigade mit dieser kleinen Misere belästigen müssen.“

Charpentier stöhnte genervt, zog sich sein Jackett zurecht und erhob mahnend den Zeigefinger. „Schließen Sie die Tür, wenn Sie fertig sind, Lacombe!“

Miray sah ihm hinterher, wie er den Gang entlang schlurfte. Kaum war er am anderen Ende verschwunden, sprang sie ins Abteil und schloss rasch die Tür hinter sich.

„Er wird sicher jeden Moment wieder zurück sein“, drängelte ich aufgeregt.

Miray grinste. „Das glaube ich nicht.“

Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und zeigte mir eine darin eingewickelte Glühbirne.

„Es wird ihn hoffentlich eine Weile beschäftigen, eine neue aufzutreiben. Trotzdem sollten wir uns beeilen.“

„Du hast vielleicht Nerven!“, stöhnte ich und nahm mir Martens Gepäck vor, ein kleiner Reisekoffer aus braunem Rindsleder. Die beiden äußeren Schnallen konnte ich einfach öffnen, aber das mittlere Schloss war fest verriegelt.

„Seltsam“, hörte ich Miray sagen. „In seinem Mantel fand ich nichts außer einem einzelnen Handschuh in der Innentasche.“

Ich wurde hellhörig. „Ist es ein fuchsroter Samthandschuh? Eventuell sogar ein linker?“

Staunend hielt sie mir das Fundstück hin. „Woher wusstest du das?“

„Volltreffer!“, rief ich triumphierend. „Das ist die Visitenkarte vom Velvet Fox! Die Polizisten sagten, der andere Handschuh lag in der Vitrine des Museums.“

„Dann ist Martens tatsächlich unser Dieb!“, jubelte Miray. „Der Aquamarin könnte in seinem Koffer sein. Kriegst du ihn auf?“

„Leider nicht. Er ist abgeschlossen und das Schloss sieht sehr stabil aus.“

Miray schlug sich mit der Faust in die andere Hand. „Verdammt! Ohne Hilfe werden wir nicht weiterkommen. Kannst du die beiden Polizisten holen, Dian? Ich sehe mich währenddessen weiter um.“

Ich nickte und verließ das Abteil.

Mein Herz schlug bis zum Hals, während ich zum Restaurantwagen zurückeilte. Hatten wir den Fall tatsächlich noch vor der Polizei geknackt? In meiner Tasche spürte ich den Samthandschuh, ein untrüglicher Beweis dafür!

Im Restaurant fand ich Martens immer noch an seinem Platz. Arglos schnitt er sich ein Stück Steak ab und schob es mit der Gabel durch eine braune Sauce. Weiter hinten saßen Inspektor Reynaud und Lieutenant Barnes, die gelangweilt ihren Kaffee schlürften. Sicher würde sich ihre Stimmung gleich heben.

Ich trat an sie heran und flüsterte stolz: „Wir haben den Dieb gefunden.“

Unauffällig deutete ich auf Martens.

Lieutenant Barnes lachte abfällig. „Woher wollen Sie das wissen?“

Unbemerkt zog ich das Beweisstück aus meiner Tasche und legte es auf den Tisch. Inspektor Reynaud nahm es rasch an sich und betrachtete es mit großen Augen.

„Woher wissen Sie von dem Samthandschuh?“, fragte er leise. „Diese Information wurde nicht herausgegeben!“

Verlegen räusperte ich mich. „Ich habe Sie vorhin am Tisch belauscht, als Sie sich über den Fall unterhielten.“

Reynaud und Barnes starrten sich ungläubig an. Dann übernahm Barnes das Kommando. „In die Küche“, befahl er, „sofort!“

Sie standen auf und eskortierten mich nach hinten. In der Küche wartete Moreau bereits auf mich. Sofort ging er auf mich los. „Schön, dass Sie sich auch mal wieder blicken lassen, Lacombe“, schnauzte er. „Ich wollte Sie schon suchen lassen.“

Die Polizisten ignorierten ihn. Sie hatten dringendere Fragen. „Wie zum Teufel sind Sie an diesen Handschuh gekommen?“, bellte Barnes.

Dankbarkeit sah anders aus. Stattdessen kippte die Stimmung nun gegen mich. War es etwa meine Schuld, dass sie lieber Kaffee tranken, statt selbst nach dem Dieb zu suchen?

Ich atmete tief durch. „Wir fanden den Handschuh in seiner Jacke, als wir sein Abteil durchsuchten.“

Moreau schlug mit seiner Faust auf den Spültisch, dass das Geschirr schepperte. „Was haben Sie getan, Lacombe? Sie haben das Abteil eines Passagiers durchsucht?“, brüllte er aus voller Lunge. „Haben Sie völlig den Verstand verloren?“

Reynaud hob beschwichtigend die Hände. „Um diese Übertretung kümmern wir uns später. Aber warum sagen Sie ‚wir‘? Mit wem arbeiten Sie zusammen?“

„Mit der Frau aus Abteil 3.“

„Ein anderer Passagier?“, hakte Reynaud verblüfft nach. „Woher kennen Sie die Madame?“

„Wir haben uns heute im Zug kennengelernt“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Erst in diesem Moment begriff ich, wie naiv und unbesonnen das klingen musste.

Reynaud rieb sich die Stirn. „Das werden Sie mir später ausführlich erklären müssen.“

Dann nickte er seinem Kollegen zu. „Der Handschuh ist ein starkes Indiz. Wir sollten der Spur nachgehen!“

Als wir ins Restaurant zurückkehrten, stockte mir der Atem.

Martens Stuhl war leer. Auf seinem Teller lag noch das Essen, ein Stück Fleisch auf der Gabel aufgespießt, das Messer halb in der Sauce versunken. Er musste aufgesprungen und herausgeeilt sein.

„Er ist weg!“, rief ich panisch. „Miray wartet in seinem Abteil auf uns. Er wird sie dort überraschen!“

Wir stürmten zu dem hinteren Schlafwagen. Dort stand Charpentier vor der offenen Tür zu Abteil 26 und starrte hilflos hinein. Als er uns kommen sah, winkte er uns aufgeregt zu sich.

„Die Tür stand offen und es fehlt ein Koffer!“, stieß er hervor. „Das war sicher diese Mademoiselle, die mich weggelockt hat, nachdem ich für Lacombe aufgeschlossen hatte.“

Er sah mich vorwurfsvoll an, als wäre das alles meine Schuld.

Moreau nutzte den Augenblick, um mich am Kragen zu packen und zu schütteln.

„Sie haben einer fremden Person geholfen, in dieses Abteil einzubrechen, und jetzt wurde ein Koffer gestohlen?“, brüllte er mich an.

Ich staunte, dass er seine Lautstärke noch steigern konnte.

„Das reicht, Lacombe! Sie haben genug angerichtet, das Maß ist voll! Sie sind gefeuert! Packen Sie Ihre Sachen, in Budapest verlassen Sie den Zug. Ich möchte Sie nicht mehr sehen.“

Inspektor Reynaud trat dazwischen und nahm Moreau zur Seite.

„Wir müssen zuerst die Komplizin finden“, sagte er ruhig. „Sie muss sich noch im Zug befinden. Auf dem Weg hierher ist sie uns nicht begegnet, also kann sie nur in die andere Richtung entkommen sein.“

„Außerdem ist der Verdächtige weg“, ergänzte Lieutenant Barnes, „wahrscheinlich ist er bei ihr.“

Moreau nickte widerwillig und ließ von mir ab.

„Wann werden wir Budapest erreichen?“, fragte Barnes.

Moreau warf einen Blick auf seine Uhr. „In etwa dreißig Minuten.“

„Wir müssen sie vorher schnappen! Wenn sie dort aussteigen, verlieren wir ihre Spur.“

Barnes griff mich und drehte meinen Arm auf den Rücken. Dann stieß er mich vorwärts. Gerade passierten wir den Übergang zum hinteren Gepäckwagen, als der Zug über eine Weiche fuhr und uns zur Seite warf.

Einen Augenblick später hörten wir einen Schuss.

„Miray!“, rief ich entsetzt.

Reynaud zog sofort seine Dienstwaffe und stürmte in den Gepäckwagen. Ich riss mich von Barnes los und lief hinterher, die anderen folgten uns.

Wir erreichten den Gepäckraum. Dort lag Martens neben einer Holzkiste auf dem Boden, bewusstlos, mit einem kleinen Revolver in der rechten Hand. Seine Brille lag neben ihm, stattdessen klaffte eine blutende Platzwunde an seiner linken Schläfe.

Zwei Meter von ihm entfernt stand Miray in einer Ecke. Sie hielt den Koffer fest umklammert.

Reynaud senkte seine Pistole, bückte sich und nahm Martens den Revolver ab.

„Was ist denn hier passiert?“, fragte Barnes verdutzt.

Miray räusperte sich.

„Ich wartete in Martens Abteil auf Sie. Stattdessen kam er. Als er mich sah, zog er seine Waffe. Ich schnappte mir den Koffer und rannte los, er mir hinterher. Hier wollte er mich beseitigen. Zum Glück machte der Zug einen Schlenker. Martens stolperte und schlug mit dem Kopf auf die Kiste. Dabei löste sich ein Schuss aus seiner Waffe.“

„Sie lügt“, knurrte Martens benommen. Er richtete sich auf, rieb sich die Schläfe und starrte auf das Blut an seiner Hand. „Ich erwischte die Ganovin, als sie meinen Koffer stehlen wollte. Sie lief davon, ich verfolgte sie. Hier lockte sie mich in einen Hinterhalt und schlug mich nieder.“

Reynaud sah sich um. „Womit hat Mademoiselle Sie niedergeschlagen?“, fragte er schließlich. „Ich sehe nichts, was sich eignen würde.“

„Was weiß ich?“, knurrte Martens, während er sich auf die Kiste setzte. Er zog seine hochhackigen, schwarzen Lederschuhe zurecht und schnürte sie neu, bevor er aufstand und den Staub von seiner Kleidung schlug. „Vielleicht mit dem Koffer. Oder mit ihren Fäusten.“

Barnes musterte Miray, dann Martens, der deutlich größer und kräftiger war als sie. „Die junge Dame sieht mir nicht gerade wie eine Preisboxerin aus“, stellte er fest und lachte laut.

Martens blickte zu den Polizisten und knurrte: „Wer sind Sie überhaupt?“

„Sûreté“, antwortete Reynaud knapp und zeigte seinen Dienstausweis.

Dann zog er das Beweisstück hervor.

„Stimmt es, dass Sie den Handschuh gefunden haben, Mademoiselle?“

Sie nickte. „Ja, er steckte in seiner Manteltasche.“

„Ich habe diesen Handschuh noch nie zuvor gesehen“, protestierte Martens scharf. „Sie will mir etwas anhängen!“

Lieutenant Barnes wandte sich an mich.

„Sie waren doch dabei. Können Sie bestätigen, dass der Handschuh in seinem Mantel war?“

Meine Knie wurden weich. Entsetzt starrte ich Miray an. Konnte ich wirklich so blind gewesen sein?

Ich erinnerte mich, dass ich mit dem Koffer beschäftigt war, während sie den Trenchcoat durchsuchte. Plötzlich hatte sie den Handschuh in ihrer Hand.

Damals hatte es richtig ausgesehen.

Aber hatte ich sie wirklich dabei beobachtet, wie sie ihn aus dem Mantel zog?

Nein, das hatte ich nicht.

Ich schüttelte meinen Kopf. „Es wäre auch denkbar, dass es ihr Handschuh ist.“

Miray ließ sich nicht beirren. „Der Aquamarin ist im Koffer, nicht wahr?“

Reynaud nickte. „Das lässt sich leicht überprüfen. Wenn Sie so freundlich wären, ihn zu öffnen, Monsieur Martens?“

Der Mann stöhnte entnervt, zog einen kleinen Schlüssel aus seiner Hosentasche und öffnete den Koffer. Der Inspektor stellte ihn auf die Kiste und durchsuchte den Inhalt, aber fand nichts außer Wäsche, einem Necessaire mit Reiseutensilien und einer alten Zeitung. Kein Geheimfach, kein doppelter Boden. Nichts, wo man einen großen Edelstein hätte verstecken können.

Barnes hatte zwischenzeitlich die Taschen des Mannes durchsucht. Ebenso erfolglos.

„Ich denke, die Angelegenheit hat sich damit erledigt“, erklärte Martens spitz. Er warf Miray einen vorwurfsvollen Blick zu, griff seinen Koffer und wandte sich an die Polizisten.

„Darf ich noch um meine Waffe bitten?“

Reynaud schüttelte den Kopf. „Die können Sie sich bei mir abholen, wenn Sie den Zug verlassen. Nur zur Sicherheit.“

Martens knurrte. „Wie Sie meinen! Meine Herren, die Dame…“, verabschiedete er sich ungehalten und verließ den Gepäckwagen.

Inspektor Reynaud sah uns lange Zeit schweigend an, bevor er sich flüsternd mit seinem Kollegen beriet.

Dann verkündete er das Urteil.

„Mademoiselle Miray, Monsieur Lacombe, wir wissen nicht, welche Rolle Sie in dieser Angelegenheit spielen, aber Ihr Verhalten ist uns suspekt. Wir werden Sie im Abteil der Mademoiselle einschließen, bis wir Paris erreichen. Dort nehme ich Sie zum Verhör in die Sûreté mit.“

Ich wusste, dass Widerstand sinnlos war. Die Polizisten waren bewaffnet. Sich zu wehren oder zu fliehen, wäre viel zu gefährlich gewesen.

Also ließen wir uns in Mirays Abteil führen. Reynaud nahm ihr den Schlüssel ab. Die Tür fiel ins Schloss und wurde von außen zugesperrt.

Kaum waren wir alleine, stieß Miray mich unsanft auf den Sitz und beugte sich über mich. Ihr Blick verriet, dass ich vorhin besser geflohen wäre.

„Da bist du mir ja schön in den Rücken gefallen, Dian! Glaubst du wirklich, dass ich eine Diebin bin?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich weiß gar nicht mehr, was ich glauben soll“, antwortete ich verlegen. „Barnes hat mich verunsichert. Ich habe tatsächlich nicht gesehen, ob du den Handschuh in seinem Trenchcoat gefunden oder selbst mitgebracht hast.“

Miray blickte zur Seite und schnaubte kurz. Dann sah sie mich wieder an. „Wenn man Loyalität in Scoville messen würde, wärst du ein Brocken kalter Tofu!“

„Mir reicht der ganze Mist!“, brach es aus mir heraus. „Ich will endlich aus diesem verdammten Traum aufwachen und wieder zu Hause sein. Das Abenteuer kann mir gestohlen bleiben.“

Miray ließ sich auf den Platz neben mir fallen. Schmollend saßen wir nebeneinander und starrten durch das Fenster in die Dunkelheit.

Ich konnte tatsächlich nicht einschätzen, auf welcher Seite Miray stand. Wollte sie wirklich den Velvet Fox fangen? Oder war sie es selbst – und ich nur ein nützlicher Handlanger, um davon abzulenken? Begann ihre Reise tatsächlich in Sofia, oder wollte sie damit nur ihre Spuren verwischen?

Ich wusste es nicht.

Ich wusste allerdings, dass sie dasselbe seltsame Tattoo trug wie ich. Außerdem war sie es, die mich als Traumreisenden erkannt hatte. Sie gehörte zweifellos ebenso wenig hierher wie ich.

„Miray“, begann ich vorsichtig, „ich sehe ein, dass wir es nur gemeinsam schaffen werden, aus diesem Traum aufzuwachen. Lass uns wieder Freunde sein und zusammenarbeiten.“

Sie nickte gekränkt. Dann schloss sie die Augen, tippte sich nachdenklich auf die Nasenspitze und sagte: „Ich verstehe das nicht. Es kann nur Martens sein! Aber wir haben seine Sachen gründlich durchsucht und keinen Aquamarin gefunden.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat er den Stein ja irgendwo im Zug versteckt?“

„Das glaube ich nicht.“ Sie wedelte mit ihrem Zeigefinger. „Wenn ich die Diebin wäre, würde ich den Klunker bei mir tragen. Das Risiko wäre zu groß, dass jemand das Versteck entdeckt oder ich nicht mehr herankomme.“

Sie stand auf und lief wie ein Tiger im Zoogehege vor der Tür auf und ab.

„Wir müssen Martens unbedingt entlarven, bevor wir Paris erreichen. Sonst ist er weg, und wir stecken in echten Schwierigkeiten.“

Sie rappelte an der Türklinke, dann trat sie frustriert gegen die Tür.

„Stattdessen sitzen wir in diesem verfluchten Abteil fest.“

Ich seufzte, griff nach dem Daily Telegraph, der noch auf dem Tisch lag, und blätterte lustlos darin.

Gegen Mitternacht fuhr der Zug in den Westbahnhof von Budapest ein. Ich schob das Fenster auf, lehnte mich hinaus und sah auf den Bahnsteig.

Lieutenant Barnes stand dort. Er nickte mir zum Gruß zu, schob seinen Mantel ein wenig zur Seite und deutete mit einem breiten Grinsen auf das Holster seiner Waffe.

Ich erwiderte den Gruß und beobachtete eine Weile das Treiben auf dem Bahnsteig, bevor ich das Fenster wieder schloss.

Pünktlich um ein Uhr ertönte die Pfeife der Lokomotive. Kurz darauf setzte der Zug seine Reise fort. Der nächste Halt war Bratislava um fünf Uhr neununddreißig. Uns stand eine lange, ereignislose Nacht bevor.

„Mir fallen die Augen zu“, murmelte ich. „Ich werde ein wenig schlafen. Wir können ja sowieso nichts tun.“

Miray grinste schief.

„Falls du hoffst, hier einzuschlafen und zu Hause wieder aufzuwachen…“, erriet sie meine Gedanken, „dann muss ich dich enttäuschen. Das wird nicht passieren.“

Murrend zog ich mir die Schuhe aus und legte mich auf die Couch. „Das tut gut“, stöhnte ich. „Ich vermisse meine Sneakers. Diese Lederschuhe sind eine echte Folter.“

Miray starrte mich mit großen Augen an. Dann sprang sie auf.

„Das ist es!“, rief sie. „Dian, wir müssen sofort hier raus!“

Sie rappelte am Türgriff, doch die Tür war solide und fest verschlossen.

„Kannst du Schlösser knacken?“, fragte sie mich.

Ich schüttelte den Kopf. Aber ich hatte eine andere Idee. Stumm deutete ich auf einen Heizkörper unter dem Fenster. Miray folgte meiner Geste.

„Die Heizung?“

Ich nickte.

„Ja! Wir könnten Dampf ablassen und dann um Hilfe rufen.“

„Das könnte tatsächlich funktionieren“, murmelte Miray. „Aber wie?“

Ich zog eine schmale Münze aus meiner Hosentasche. „Lass mich das machen“, sagte ich und grinste. „Ich bin Mechaniker. Ich weiß, wie man Dinge kaputtmacht.“

Mit der Kante des Geldstücks schaffte ich es, das Entlüftungsventil an der Heizung zu öffnen. Sofort zischte es, und wenige Sekunden später vernebelte der austretende Dampf die Sicht und verwandelte unser Abteil in ein Dampfbad.

Miray hämmerte an die Tür und rief um Hilfe.

„Was ist los?“, meldete sich Charpentier auf der anderen Seite.

„Die Heizung ist geplatzt!“, rief Miray panisch. „Hier ist alles voller Dampf! Sie müssen uns helfen! Schnell!“

Etliche Sekunden vergingen, bevor Charpentier endlich die Tür aufschloss und eintrat. Mit offenem Mund starrte er auf die Nebelwand, dann sprang er nach vorne zum Heizkörper.

In diesem Moment schnappte die Falle zu. Miray schloss die Tür, dann packte sie den hageren, alten Mann von hinten und hielt ihm den Mund zu. Er hatte gegen sie keine Chance.

„Wenn Sie sich nicht wehren, wird Ihnen nichts passieren“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Aber wir müssen einen Dieb fangen, bevor wir in Paris ankommen. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.“

Ich drehte das Ventil wieder zu und beendete den Zaubertrick. Dann riss ich die Gardinenkordel vom Fenster. Damit fesselten wir Charpentiers Arme und Beine. Miray holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und knebelte ihn, bevor sie seinen Schlüsselbund an sich nahm.

„Ach ja“, sagte sie schließlich, nahm die Glühbirne aus ihrer Tasche und legte sie vor Charpentiers Augen auf dem Tisch. „Die hier brauche ich nicht mehr.“

Auf dem Gang war niemand zu sehen. Wir schlichen los und eilten zu Martens Abteil. Als wir seine Tür erreichten, hörten wir von innen ein leises Schnarchen.

„Was hast du vor?“, flüsterte ich Miray zu.

„Seine Schuhe klauen“, antwortete sie knapp.

Sie nahm Charpentiers Schlüsselbund.

„Welcher Schlüssel ist es, Dian?“

Ich zuckte mit den Schultern.

Sie seufzte leise. Dann probierte sie den ersten, doch er passte nicht ins Schloss. Der zweite Schlüssel glitt sauber hinein. Vorsichtig drehte sie ihn um und schob die Tür auf.

Martens lag auf der Liegecouch, eingekuschelt unter einer Bettdecke. Seine Kleidung hing sorgfältig an der Garderobe, die Schuhe hatte er am Fenster abgestellt.

Miray deutete mir an, still zu sein. Dann kroch sie auf allen vieren in das Abteil, griff nach den Schuhen und zog sie an sich.

Auf dem Weg zurück stieß sie gegen den Koffer, der am Tisch abgestellt war. Mit einem dumpfen Schlag kippte er um.

Martens schreckte hoch, sah Miray und sprang sofort auf. Mit seinen kräftigen Händen drückte er sie an ihrem Genick zu Boden.

Paralysiert starrte ich in das Abteil. Ich wollte Miray helfen – aber wie?

Im selben Augenblick hörte ich hastige Schritte vom anderen Ende des Gangs.

„Da hinten sind sie!“, rief Charpentier. Offensichtlich war es ihm gelungen, sich zu befreien und Hilfe zu holen. Er kam mit Inspektor Reynaud und Lieutenant Barnes auf mich zugestürmt.

„Es reicht jetzt!“, rief Barnes wütend. „Sie haben sich gerade viel Ärger eingehandelt, Mister. Sehr viel Ärger!“

Als er mich erreichte, packte er mich brutal und drückte mich gegen die Wand.

„Wie viel muss ich mir von diesen beiden Verrückten gefallen lassen?“, protestierte Martens empört.

Er hatte sein Knie in Mirays Rücken gepresst und versuchte, ihr die Schuhe zu entreißen. Doch sie hatte sich auf dem Boden eingerollt und hielt ihre Beute fest umklammert.

„Lassen Sie sie aufstehen“, wies Reynaud ihn scharf an. „Wir werden uns um sie kümmern.“

Martens schnaubte abfällig. „Gut! Aber machen Sie Ihre Arbeit endlich ordentlich! Wenn ich noch einmal belästigt werde, werden Sie es bedauern.“

Kaum hatte er sein Knie weggenommen, sprang Miray auf und stand ihm drohend gegenüber.

„Geben Sie mir meine Schuhe zurück!“, forderte Martens.

„Die müssen Sie sich schon holen kommen“, knurrte Miray. „Aber diesmal bin ich vorbereitet.“

Reynaud verlor die Geduld. „Was soll dieses Theater?“, fuhr er sie an. „Was wollen Sie mit seinen Schuhen?“

Ohne Martens aus den Augen zu lassen, rückte sie zum Inspektor. „Finden Sie es nicht merkwürdig, dass so ein Riese hohe Absätze trägt?“

Mit aufgerissenen Augen starrte er Miray an. Dann nahm er ihr die Schuhe ab und betrachtete sie sich.

Tatsächlich hatten sie ungewöhnlich hohe Absätze. Er untersuchte die Sohle, entdeckte einen winzigen Riegel und legte ihn um. Dann drehte er den Absatz zur Seite, griff hinein und zog einen blauen Edelstein hervor.

Selbst im trüben Licht der Flurbeleuchtung strahlte seine tiefblaue Farbe und funkelten seine Facetten.

Sapristi!“, entfuhr es Reynaud. „Das ist die Träne der Wüste. Kein Zweifel!“

Er räusperte sich, nahm Haltung an und nickte seinem Kollegen zu.

„Los, Lieutenant Barnes, nehmen Sie Monsieur Martens fest!“

Barnes grinste breit. „Mit dem größten Vergnügen, Inspektor!“

Ich warf einen Blick zu Miray, die immer noch im Abteil stand und Barnes beobachtete, wie er dem überführten Dieb Handschellen anlegte. Sie hatte es tatsächlich geschafft!

Sie sah mich an, und in ihrem Blick lag kein Triumph, kein Stolz. Nur ein stilles: „Na, habe ich es dir nicht gesagt?“

Reynaud räusperte sich verlegen. „Ich glaube, ich muss mich bei Ihnen bedanken, auch wenn Sie sehr leichtsinnig waren. In Paris wird die Reise für den Velvet Fox zu Ende gehen, und der Edelstein findet seinen Weg zurück in den Palast. Für Sie dürfte eine ordentliche Belohnung winken.“

„Wie hoch…“, begann ich, doch Miray unterbrach mich.

„Was sollen wir mit einer Belohnung?“, fragte sie.

Wir ließen den verdutzten Inspektor stehen.

„Mademoiselle“, rief er uns hinterher, „eine Frage noch… Wie kam es eigentlich, dass Monsieur Martens eine Platzwunde an der linken Schläfe davontrug, wenn die Kiste rechts von ihm stand?“

Miray reagierte nicht. Schweigend ging sie einfach weiter, bis wir ihr Abteil erreichten und uns dort auf die Sitze fallen ließen.

„Warum hast du die Belohnung ausgeschlagen?“, fragte ich Miray frustriert.

„Wir haben den Dieb erwischt. Was willst du mehr?“

„Wenn du das Geld nicht willst, ist das deine Sache. Aber ich hätte es gut gebrauchen können.“

Ich zog ein paar Münzen aus meiner Tasche und wog sie in meiner Hand.

„Na ja, wenigstens konnte ich ein wenig Trinkgeld sammeln. Zu Hause dürften diese Münzen ein kleines Vermögen wert sein.“

„Das ist ein Traum“, erinnerte Miray mich. „Du kannst nichts Materielles mitnehmen. Keine Münzen, keine Belohnung. Nur die Erinnerung.“

Sie hatte recht. Ich warf einen letzten Blick auf meine Trinkgeldsammlung, bevor ich sie wieder in der Tasche verschwinden ließ.

„Und nun?“, fragte ich.

Sie deutete auf ihr Handgelenk. Ein grüner Kreis umschloss die beiden Striche.

„Wir haben es geschafft!“, bemerkte sie.

Ich nahm meine Armbanduhr ab und betrachtete mein Tattoo. Es sah genauso aus.

„Das heißt, wir können jetzt aufwachen?“

„Das heißt es.“ Sie nickte. „Vorausgesetzt, du bist bereit, dich von deinem spannenden Job als Kellner zu trennen.“

„Der ist passé. Moreau hat mich gefeuert, weil du den Koffer geklaut hast.“

Miray schüttelte den Kopf. „Er weiß Helden nicht zu würdigen“, bemerkte sie trocken. „Aber vielleicht hättest du als Kofferträger am Gare de l’Est mehr Erfolg?“

Ich winkte ab. „Eigentlich mag ich meinen Job als Mechaniker.“

Dann sah ich sie an, versank einen Moment lang in ihren eisblauen Augen.

„Was meinst du, Miray, werden wir uns wiedersehen?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung! Es ist das erste Mal, dass ich von einem anderen Traumreisenden begleitet wurde.“

Ich spürte einen Kloß im Hals. Ich war nicht traurig darum, diese Traumwelt zu verlassen. Aber meine smarte Gefährtin und ihre freche Art würde ich vermissen.

„Dann mach es gut, Miray“, verabschiedete ich mich.

Ich streckte meine Arme aus. Sie zögerte kurz, schien zu überlegen. Dann nahm sie meine Geste an, und wir umarmten uns.

„Bist du bereit?“, fragte sie. Ich nickte.

Sie legte ihre Hand auf ihr Tattoo. Nichts passierte.

„Hmm…“, sagte sie, „wie es aussieht, müssen wir das gemeinsam machen.“

Ich sah sie ein letztes Mal an, bevor ich ebenfalls meine Hand auf mein Tattoo legte.

Im selben Augenblick wurde alles um mich herum schwarz. Ich stürzte rücklings in ein endloses Nichts, bevor ich das Bewusstsein verlor.

Das Rattern eines Maschinengewehrs schreckte mich hoch.

Träumte ich etwa immer noch?

Ich riss die Augen auf. Ein Panzer rollte durch das Bild meines Fernsehers. Ich lag auf meiner Couch, in meiner Wohnung, bedeckt von einem Haufen Kartoffelchips aus einer umgestürzten Tüte.

Rasch schaltete ich den Fernseher ab, befreite mich von den Chips und machte mich auf den Weg ins Badezimmer.

Während ich mir die Zähne putzte, dachte ich darüber nach, was ich gerade erlebt hatte. War es wirklich bloß ein Traum?

Es schien so.

Und doch konnte ich mich so detailliert an ihn erinnern wie an eine Reise, von der man vor kurzem erst zurückkehrte. Ich hörte immer noch das Rattern des Zuges in meinen Ohren, und der Geruch von verbranntem Holz, Schmieröl und Holzpolitur schien in meinem Wohnzimmer weiterzuwabern.

War das alles ein Produkt meines Gehirns, eine Illusion? Oder wachte irgendwo anders auf der Welt eine Frau gerade aus einem merkwürdigen Traum auf, der ebenfalls nicht enden wollte?

Episode 1 „Träne der Wüste“ v2.3 vom 10. Juni 2025